Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

fache Stimmung der Lust oder der Unlust; denn das Gemüth und der
Gegenstand sind beide schlechthin vielseitig. Was diese Region der unend-
lichen Resonnanz des Innern von Lust erzittern macht, klingt in einer andern
als Schmerz an und umgekehrt, die Lust im Schmerz spaltet sich abermals
in Lust und Schmerz und ebenso der Schmerz in der Lust, ja es sind
genauer betrachtet nicht nur verschiedene Anklänge so zu sagen an verschie-
denen Stellen, nicht nur solche Spaltungen, sondern es ist ein wirklicher
unendlicher Stellenwechsel, denn aus der Unendlichkeit der Beziehungen
folgt, daß, was in der einen Lust ist, in der andern Schmerz sein kann,
und umgekehrt. Wir sind schon hier auf eine allgemeine Relativität geführt,
worin es nichts Festes gibt, sondern aller Begriff von Inhalt in den
Begriff unendlicher Verhältnißstellungen übergeht. Unbeschadet
dieser unabsehlichen Mischung, Verwicklung, Wendung wird, wo nicht im
Ganzen einer Stimmung, die ihren geschlossenen Ablauf hat, doch in einem
Stadium jeder Stimmung entweder Lust oder Unlust herrschen. Hier aber
fordert das Gesetz des Schönen selbst, daß diese Herrschaft keine absolute
sei. Es gibt eine gemeine Lust und einen gemeinen, grassen Schmerz;
beide werden mannigfaltige Mischungen mit ihrem Gegentheil darstellen,
aber doch so, daß sich dort die Mischung in das Gefühl platter einfacher
Lustigkeit, hier in den Schrei der Verzweiflung zusammenfaßt. Die Läuterung
des Gefühls, wie wir sie in §. 750, 2. als allgemeine Voraussetzung hin-
gestellt haben, duldet weder das Eine, noch das Andere. Das Herz, das
nicht in stoffartiger Unfreiheit vom Sturze der Empfindung fortgerissen
wird und das sich die Gewißheit der Harmonie der Dinge durch keine
Erfahrung rauben läßt, schwebt selbst über dem äußersten Schmerz, ja es
fühlt, daß er schön ist, und versenkt sich frei in diese Schönheit. Ebenso-
wenig kennt die ächte Empfindung jenes reine Zufriedensein mit einem
endlichen Zustande, das in der bloßen Lustigkeit oder klebenden Behaglichkeit
sich kund gibt. Jedes Wohlsein erscheint im Lichte des Ideals als ein
vergängliches und die höchste Lust in der Versöhnung mit dem Ewigen ist
vom Gefühle des Opfers und der Unzulänglichkeit durchzittert. Es ist
nur ein anderes Wort für die im allgemeinen Sinne des Worts religiöse
Natur des ächten Gefühls, daß ihm ein Hauch der Wehmuth durchaus
wesentlich ist, etwas von dem Gefühlstone, womit wir auf vergangene
Zeiten schönen Völkerlebens, auf die Kinderjahre zurückblicken. Das Gemüth
schwebt in jener Höhe, wovon alles Endliche in seiner Fülle, aber auch
wie ein so eben sich Auflösendes, ein hinschwindender Flor empfunden wird.
Diese Lust ist freilich die Schlußempfindung auch des tiefsten Schmerzes
im reinen Gefühlsleben.


fache Stimmung der Luſt oder der Unluſt; denn das Gemüth und der
Gegenſtand ſind beide ſchlechthin vielſeitig. Was dieſe Region der unend-
lichen Reſonnanz des Innern von Luſt erzittern macht, klingt in einer andern
als Schmerz an und umgekehrt, die Luſt im Schmerz ſpaltet ſich abermals
in Luſt und Schmerz und ebenſo der Schmerz in der Luſt, ja es ſind
genauer betrachtet nicht nur verſchiedene Anklänge ſo zu ſagen an verſchie-
denen Stellen, nicht nur ſolche Spaltungen, ſondern es iſt ein wirklicher
unendlicher Stellenwechſel, denn aus der Unendlichkeit der Beziehungen
folgt, daß, was in der einen Luſt iſt, in der andern Schmerz ſein kann,
und umgekehrt. Wir ſind ſchon hier auf eine allgemeine Relativität geführt,
worin es nichts Feſtes gibt, ſondern aller Begriff von Inhalt in den
Begriff unendlicher Verhältnißſtellungen übergeht. Unbeſchadet
dieſer unabſehlichen Miſchung, Verwicklung, Wendung wird, wo nicht im
Ganzen einer Stimmung, die ihren geſchloſſenen Ablauf hat, doch in einem
Stadium jeder Stimmung entweder Luſt oder Unluſt herrſchen. Hier aber
fordert das Geſetz des Schönen ſelbſt, daß dieſe Herrſchaft keine abſolute
ſei. Es gibt eine gemeine Luſt und einen gemeinen, graſſen Schmerz;
beide werden mannigfaltige Miſchungen mit ihrem Gegentheil darſtellen,
aber doch ſo, daß ſich dort die Miſchung in das Gefühl platter einfacher
Luſtigkeit, hier in den Schrei der Verzweiflung zuſammenfaßt. Die Läuterung
des Gefühls, wie wir ſie in §. 750, 2. als allgemeine Vorausſetzung hin-
geſtellt haben, duldet weder das Eine, noch das Andere. Das Herz, das
nicht in ſtoffartiger Unfreiheit vom Sturze der Empfindung fortgeriſſen
wird und das ſich die Gewißheit der Harmonie der Dinge durch keine
Erfahrung rauben läßt, ſchwebt ſelbſt über dem äußerſten Schmerz, ja es
fühlt, daß er ſchön iſt, und verſenkt ſich frei in dieſe Schönheit. Ebenſo-
wenig kennt die ächte Empfindung jenes reine Zufriedenſein mit einem
endlichen Zuſtande, das in der bloßen Luſtigkeit oder klebenden Behaglichkeit
ſich kund gibt. Jedes Wohlſein erſcheint im Lichte des Ideals als ein
vergängliches und die höchſte Luſt in der Verſöhnung mit dem Ewigen iſt
vom Gefühle des Opfers und der Unzulänglichkeit durchzittert. Es iſt
nur ein anderes Wort für die im allgemeinen Sinne des Worts religiöſe
Natur des ächten Gefühls, daß ihm ein Hauch der Wehmuth durchaus
weſentlich iſt, etwas von dem Gefühlstone, womit wir auf vergangene
Zeiten ſchönen Völkerlebens, auf die Kinderjahre zurückblicken. Das Gemüth
ſchwebt in jener Höhe, wovon alles Endliche in ſeiner Fülle, aber auch
wie ein ſo eben ſich Auflöſendes, ein hinſchwindender Flor empfunden wird.
Dieſe Luſt iſt freilich die Schlußempfindung auch des tiefſten Schmerzes
im reinen Gefühlsleben.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0036" n="798"/>
fache Stimmung der Lu&#x017F;t oder der Unlu&#x017F;t; denn das Gemüth und der<lb/>
Gegen&#x017F;tand &#x017F;ind beide &#x017F;chlechthin viel&#x017F;eitig. Was die&#x017F;e Region der unend-<lb/>
lichen Re&#x017F;onnanz des Innern von Lu&#x017F;t erzittern macht, klingt in einer andern<lb/>
als Schmerz an und umgekehrt, die Lu&#x017F;t im Schmerz &#x017F;paltet &#x017F;ich abermals<lb/>
in Lu&#x017F;t und Schmerz und eben&#x017F;o der Schmerz in der Lu&#x017F;t, ja es &#x017F;ind<lb/>
genauer betrachtet nicht nur ver&#x017F;chiedene Anklänge &#x017F;o zu &#x017F;agen an ver&#x017F;chie-<lb/>
denen Stellen, nicht nur &#x017F;olche Spaltungen, &#x017F;ondern es i&#x017F;t ein wirklicher<lb/>
unendlicher Stellenwech&#x017F;el, denn aus der Unendlichkeit der Beziehungen<lb/>
folgt, daß, was in der einen Lu&#x017F;t i&#x017F;t, in der andern Schmerz &#x017F;ein kann,<lb/>
und umgekehrt. Wir &#x017F;ind &#x017F;chon hier auf eine allgemeine Relativität geführt,<lb/>
worin es nichts Fe&#x017F;tes gibt, &#x017F;ondern aller Begriff von Inhalt in den<lb/>
Begriff <hi rendition="#g">unendlicher Verhältniß&#x017F;tellungen</hi> übergeht. Unbe&#x017F;chadet<lb/>
die&#x017F;er unab&#x017F;ehlichen Mi&#x017F;chung, Verwicklung, Wendung wird, wo nicht im<lb/>
Ganzen einer Stimmung, die ihren ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Ablauf hat, doch in einem<lb/>
Stadium jeder Stimmung entweder Lu&#x017F;t oder Unlu&#x017F;t herr&#x017F;chen. Hier aber<lb/>
fordert das Ge&#x017F;etz des Schönen &#x017F;elb&#x017F;t, daß die&#x017F;e Herr&#x017F;chaft keine ab&#x017F;olute<lb/>
&#x017F;ei. Es gibt eine gemeine Lu&#x017F;t und einen gemeinen, gra&#x017F;&#x017F;en Schmerz;<lb/>
beide werden mannigfaltige Mi&#x017F;chungen mit ihrem Gegentheil dar&#x017F;tellen,<lb/>
aber doch &#x017F;o, daß &#x017F;ich dort die Mi&#x017F;chung in das Gefühl platter einfacher<lb/>
Lu&#x017F;tigkeit, hier in den Schrei der Verzweiflung zu&#x017F;ammenfaßt. Die Läuterung<lb/>
des Gefühls, wie wir &#x017F;ie in §. 750, <hi rendition="#sub">2</hi>. als allgemeine Voraus&#x017F;etzung hin-<lb/>
ge&#x017F;tellt haben, duldet weder das Eine, noch das Andere. Das Herz, das<lb/>
nicht in &#x017F;toffartiger Unfreiheit vom Sturze der Empfindung fortgeri&#x017F;&#x017F;en<lb/>
wird und das &#x017F;ich die Gewißheit der Harmonie der Dinge durch keine<lb/>
Erfahrung rauben läßt, &#x017F;chwebt &#x017F;elb&#x017F;t über dem äußer&#x017F;ten Schmerz, ja es<lb/>
fühlt, daß er &#x017F;chön i&#x017F;t, und ver&#x017F;enkt &#x017F;ich frei in die&#x017F;e Schönheit. Eben&#x017F;o-<lb/>
wenig kennt die ächte Empfindung jenes reine Zufrieden&#x017F;ein mit einem<lb/>
endlichen Zu&#x017F;tande, das in der bloßen Lu&#x017F;tigkeit oder klebenden Behaglichkeit<lb/>
&#x017F;ich kund gibt. Jedes Wohl&#x017F;ein er&#x017F;cheint im Lichte des Ideals als ein<lb/>
vergängliches und die höch&#x017F;te Lu&#x017F;t in der Ver&#x017F;öhnung mit dem Ewigen i&#x017F;t<lb/>
vom Gefühle des Opfers und der Unzulänglichkeit durchzittert. Es i&#x017F;t<lb/>
nur ein anderes Wort für die im allgemeinen Sinne des Worts religiö&#x017F;e<lb/>
Natur des ächten Gefühls, daß ihm ein Hauch der Wehmuth durchaus<lb/>
we&#x017F;entlich i&#x017F;t, etwas von dem Gefühlstone, womit wir auf vergangene<lb/>
Zeiten &#x017F;chönen Völkerlebens, auf die Kinderjahre zurückblicken. Das Gemüth<lb/>
&#x017F;chwebt in jener Höhe, wovon alles Endliche in &#x017F;einer Fülle, aber auch<lb/>
wie ein &#x017F;o eben &#x017F;ich Auflö&#x017F;endes, ein hin&#x017F;chwindender Flor empfunden wird.<lb/><hi rendition="#g">Die&#x017F;e</hi> Lu&#x017F;t i&#x017F;t freilich die Schlußempfindung auch des tief&#x017F;ten Schmerzes<lb/>
im reinen Gefühlsleben.</hi> </p>
            </div><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[798/0036] fache Stimmung der Luſt oder der Unluſt; denn das Gemüth und der Gegenſtand ſind beide ſchlechthin vielſeitig. Was dieſe Region der unend- lichen Reſonnanz des Innern von Luſt erzittern macht, klingt in einer andern als Schmerz an und umgekehrt, die Luſt im Schmerz ſpaltet ſich abermals in Luſt und Schmerz und ebenſo der Schmerz in der Luſt, ja es ſind genauer betrachtet nicht nur verſchiedene Anklänge ſo zu ſagen an verſchie- denen Stellen, nicht nur ſolche Spaltungen, ſondern es iſt ein wirklicher unendlicher Stellenwechſel, denn aus der Unendlichkeit der Beziehungen folgt, daß, was in der einen Luſt iſt, in der andern Schmerz ſein kann, und umgekehrt. Wir ſind ſchon hier auf eine allgemeine Relativität geführt, worin es nichts Feſtes gibt, ſondern aller Begriff von Inhalt in den Begriff unendlicher Verhältnißſtellungen übergeht. Unbeſchadet dieſer unabſehlichen Miſchung, Verwicklung, Wendung wird, wo nicht im Ganzen einer Stimmung, die ihren geſchloſſenen Ablauf hat, doch in einem Stadium jeder Stimmung entweder Luſt oder Unluſt herrſchen. Hier aber fordert das Geſetz des Schönen ſelbſt, daß dieſe Herrſchaft keine abſolute ſei. Es gibt eine gemeine Luſt und einen gemeinen, graſſen Schmerz; beide werden mannigfaltige Miſchungen mit ihrem Gegentheil darſtellen, aber doch ſo, daß ſich dort die Miſchung in das Gefühl platter einfacher Luſtigkeit, hier in den Schrei der Verzweiflung zuſammenfaßt. Die Läuterung des Gefühls, wie wir ſie in §. 750, 2. als allgemeine Vorausſetzung hin- geſtellt haben, duldet weder das Eine, noch das Andere. Das Herz, das nicht in ſtoffartiger Unfreiheit vom Sturze der Empfindung fortgeriſſen wird und das ſich die Gewißheit der Harmonie der Dinge durch keine Erfahrung rauben läßt, ſchwebt ſelbſt über dem äußerſten Schmerz, ja es fühlt, daß er ſchön iſt, und verſenkt ſich frei in dieſe Schönheit. Ebenſo- wenig kennt die ächte Empfindung jenes reine Zufriedenſein mit einem endlichen Zuſtande, das in der bloßen Luſtigkeit oder klebenden Behaglichkeit ſich kund gibt. Jedes Wohlſein erſcheint im Lichte des Ideals als ein vergängliches und die höchſte Luſt in der Verſöhnung mit dem Ewigen iſt vom Gefühle des Opfers und der Unzulänglichkeit durchzittert. Es iſt nur ein anderes Wort für die im allgemeinen Sinne des Worts religiöſe Natur des ächten Gefühls, daß ihm ein Hauch der Wehmuth durchaus weſentlich iſt, etwas von dem Gefühlstone, womit wir auf vergangene Zeiten ſchönen Völkerlebens, auf die Kinderjahre zurückblicken. Das Gemüth ſchwebt in jener Höhe, wovon alles Endliche in ſeiner Fülle, aber auch wie ein ſo eben ſich Auflöſendes, ein hinſchwindender Flor empfunden wird. Dieſe Luſt iſt freilich die Schlußempfindung auch des tiefſten Schmerzes im reinen Gefühlsleben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/36
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 798. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/36>, abgerufen am 21.11.2024.