tion, ohne zunächst den Gehalt und die Strenge des Styls aufzuheben; die religiöse Musik Italiens wird so dasjenige Gebiet, auf welchem die moderne Musik, so weit sie nicht dramatisch ist, die Ausbildung zu einer die Form bemeisternden, sie zum einfach schönen Ausdruck des Gefühlsinhalts erhebenden Classicität erlangt, wiewohl dieselbe am Ende des achtzehnten Jahrhunderts bereits in eine der Tiefe ermangelnde Anmuth und Weichheit überzugehen beginnt. Die Oper bildet das Recitativ, mit dem sie begonnen, zur Arie fort und bringt hiemit ein Hauptelement der dramatischen Musik zu classischer Entwicklung, aber sie bewegt sich in Italien von vorn herein in einseitig melodiöser Tendenz, welche sie hindert, sich zum wirklich dramatischen Kunstwerk auszubilden, und auch sie wieder einem Formalismus anheimfallen läßt, dem Formalismus einer die Oper zum bloßen Rahmen für die verschiedenen Formen der Gesangsmusik zurichtenden und diese selbst in Singkunst verwandelnden Vorliebe für das Aeußere der Gesangsvirtuosität.
Die italienische Musik bleibt großartig und gediegen, so lange und so weit sie das ursprünglich deutsche Element der Harmonie als Grundlage der Composition fortbestehen läßt. Die Polyphonie und die Verbindung der Harmonie mit der Melodie war jedoch auch innerhalb des Prinzips directer Idealisirung, welchem die italienische Musik diese ihr von außen zugekommene Kunstform wieder unterworfen hatte, noch weiterer Ausbildung fähig, und es zeigt sich daher schon in der römischen Schule eine über Palestrina hinausgehende Entwicklung; die Weichheit der Harmonie, das Gefühlvolle findet in Nanini und im siebenzehnten Jahrhundert in Allegri ihre Hauptvertreter, dessen berühmtes Miserere die Melodie d. h. das in dieser selbst, in ihren Wendungen und Hebungen liegende Ausdruckselement schon selbständiger hervortreten läßt, ohne jedoch die Mitwirkung der Harmonie in Palestrina's Weise irgend an ausdrucksreicher Bedeutsamkeit verlieren zu lassen. Auf der andern Seite findet auch das Prinzip der sonst mehr in Deutschland ausgebildeten, möglichst gesteigerten Vollstimmig- keit in seinem Zeitgenossen Benevoli seine Vertretung innerhalb der römischen Schule, wiewohl immer noch mit verhältnißmäßig einfacher Figurirung der Stimmen. Es lag in der Natur der Sache, wie des italienischen Geistes, daß das melodische Element sich mehr und mehr hervordrängen mußte, das schon Palestrina selbst dem einseitig harmonischen entgegengestellt, dann aber allerdings mit diesem wieder untrennbar verschmolzen hatte; eine ge- wisse Gleichförmigkeit obligat wiederkehrender melodiöser Wendungen, welche stehendgewordenen harmonischen Combinationen (besonders am Schlusse der Sätze und Perioden) dient, sowie eine entschiedene Mäßigung der selb- ständigen Bewegung der polyphon zusammenwirkenden Stimmen, ist der ältern römischen Schule noch eigen, weil sie die Einzelstimmen noch nicht
tion, ohne zunächſt den Gehalt und die Strenge des Styls aufzuheben; die religiöſe Muſik Italiens wird ſo dasjenige Gebiet, auf welchem die moderne Muſik, ſo weit ſie nicht dramatiſch iſt, die Ausbildung zu einer die Form bemeiſternden, ſie zum einfach ſchönen Ausdruck des Gefühlsinhalts erhebenden Claſſicität erlangt, wiewohl dieſelbe am Ende des achtzehnten Jahrhunderts bereits in eine der Tiefe ermangelnde Anmuth und Weichheit überzugehen beginnt. Die Oper bildet das Recitativ, mit dem ſie begonnen, zur Arie fort und bringt hiemit ein Hauptelement der dramatiſchen Muſik zu claſſiſcher Entwicklung, aber ſie bewegt ſich in Italien von vorn herein in einſeitig melodiöſer Tendenz, welche ſie hindert, ſich zum wirklich dramatiſchen Kunſtwerk auszubilden, und auch ſie wieder einem Formalismus anheimfallen läßt, dem Formalismus einer die Oper zum bloßen Rahmen für die verſchiedenen Formen der Geſangsmuſik zurichtenden und dieſe ſelbſt in Singkunſt verwandelnden Vorliebe für das Aeußere der Geſangsvirtuoſität.
Die italieniſche Muſik bleibt großartig und gediegen, ſo lange und ſo weit ſie das urſprünglich deutſche Element der Harmonie als Grundlage der Compoſition fortbeſtehen läßt. Die Polyphonie und die Verbindung der Harmonie mit der Melodie war jedoch auch innerhalb des Prinzips directer Idealiſirung, welchem die italieniſche Muſik dieſe ihr von außen zugekommene Kunſtform wieder unterworfen hatte, noch weiterer Ausbildung fähig, und es zeigt ſich daher ſchon in der römiſchen Schule eine über Paleſtrina hinausgehende Entwicklung; die Weichheit der Harmonie, das Gefühlvolle findet in Nanini und im ſiebenzehnten Jahrhundert in Allegri ihre Hauptvertreter, deſſen berühmtes Miſerere die Melodie d. h. das in dieſer ſelbſt, in ihren Wendungen und Hebungen liegende Ausdruckselement ſchon ſelbſtändiger hervortreten läßt, ohne jedoch die Mitwirkung der Harmonie in Paleſtrina’s Weiſe irgend an ausdrucksreicher Bedeutſamkeit verlieren zu laſſen. Auf der andern Seite findet auch das Prinzip der ſonſt mehr in Deutſchland ausgebildeten, möglichſt geſteigerten Vollſtimmig- keit in ſeinem Zeitgenoſſen Benevoli ſeine Vertretung innerhalb der römiſchen Schule, wiewohl immer noch mit verhältnißmäßig einfacher Figurirung der Stimmen. Es lag in der Natur der Sache, wie des italieniſchen Geiſtes, daß das melodiſche Element ſich mehr und mehr hervordrängen mußte, das ſchon Paleſtrina ſelbſt dem einſeitig harmoniſchen entgegengeſtellt, dann aber allerdings mit dieſem wieder untrennbar verſchmolzen hatte; eine ge- wiſſe Gleichförmigkeit obligat wiederkehrender melodiöſer Wendungen, welche ſtehendgewordenen harmoniſchen Combinationen (beſonders am Schluſſe der Sätze und Perioden) dient, ſowie eine entſchiedene Mäßigung der ſelb- ſtändigen Bewegung der polyphon zuſammenwirkenden Stimmen, iſt der ältern römiſchen Schule noch eigen, weil ſie die Einzelſtimmen noch nicht
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[1136/0374]
tion, ohne zunächſt den Gehalt und die Strenge des Styls aufzuheben; die
religiöſe Muſik Italiens wird ſo dasjenige Gebiet, auf welchem die moderne Muſik,
ſo weit ſie nicht dramatiſch iſt, die Ausbildung zu einer die Form bemeiſternden,
ſie zum einfach ſchönen Ausdruck des Gefühlsinhalts erhebenden Claſſicität
erlangt, wiewohl dieſelbe am Ende des achtzehnten Jahrhunderts bereits in eine
der Tiefe ermangelnde Anmuth und Weichheit überzugehen beginnt. Die Oper
bildet das Recitativ, mit dem ſie begonnen, zur Arie fort und bringt hiemit
ein Hauptelement der dramatiſchen Muſik zu claſſiſcher Entwicklung, aber ſie
bewegt ſich in Italien von vorn herein in einſeitig melodiöſer Tendenz, welche
ſie hindert, ſich zum wirklich dramatiſchen Kunſtwerk auszubilden, und auch ſie
wieder einem Formalismus anheimfallen läßt, dem Formalismus einer die Oper
zum bloßen Rahmen für die verſchiedenen Formen der Geſangsmuſik zurichtenden
und dieſe ſelbſt in Singkunſt verwandelnden Vorliebe für das Aeußere der
Geſangsvirtuoſität.
Die italieniſche Muſik bleibt großartig und gediegen, ſo lange und
ſo weit ſie das urſprünglich deutſche Element der Harmonie als Grundlage
der Compoſition fortbeſtehen läßt. Die Polyphonie und die Verbindung
der Harmonie mit der Melodie war jedoch auch innerhalb des Prinzips
directer Idealiſirung, welchem die italieniſche Muſik dieſe ihr von außen
zugekommene Kunſtform wieder unterworfen hatte, noch weiterer Ausbildung
fähig, und es zeigt ſich daher ſchon in der römiſchen Schule eine über
Paleſtrina hinausgehende Entwicklung; die Weichheit der Harmonie, das
Gefühlvolle findet in Nanini und im ſiebenzehnten Jahrhundert in Allegri
ihre Hauptvertreter, deſſen berühmtes Miſerere die Melodie d. h. das in
dieſer ſelbſt, in ihren Wendungen und Hebungen liegende Ausdruckselement
ſchon ſelbſtändiger hervortreten läßt, ohne jedoch die Mitwirkung der
Harmonie in Paleſtrina’s Weiſe irgend an ausdrucksreicher Bedeutſamkeit
verlieren zu laſſen. Auf der andern Seite findet auch das Prinzip der
ſonſt mehr in Deutſchland ausgebildeten, möglichſt geſteigerten Vollſtimmig-
keit in ſeinem Zeitgenoſſen Benevoli ſeine Vertretung innerhalb der römiſchen
Schule, wiewohl immer noch mit verhältnißmäßig einfacher Figurirung der
Stimmen. Es lag in der Natur der Sache, wie des italieniſchen Geiſtes,
daß das melodiſche Element ſich mehr und mehr hervordrängen mußte, das
ſchon Paleſtrina ſelbſt dem einſeitig harmoniſchen entgegengeſtellt, dann
aber allerdings mit dieſem wieder untrennbar verſchmolzen hatte; eine ge-
wiſſe Gleichförmigkeit obligat wiederkehrender melodiöſer Wendungen, welche
ſtehendgewordenen harmoniſchen Combinationen (beſonders am Schluſſe der
Sätze und Perioden) dient, ſowie eine entſchiedene Mäßigung der ſelb-
ſtändigen Bewegung der polyphon zuſammenwirkenden Stimmen, iſt der
ältern römiſchen Schule noch eigen, weil ſie die Einzelſtimmen noch nicht
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/374>, abgerufen am 21.11.2024.
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