individualisiren, sondern sie nur zum Ganzen mitwirken lassen will; hiebei aber konnte nicht beharrt werden, der italienische Charakter verlangte un- mittelbar in's Ohr fallende Klarheit des Ganges der Melodie, und diesem Trieb kann auch die römische Schule nicht widerstehen. Vollkommen aber wird dieses Prinzip der Stimmenindividualisirung in's Leben eingeführt erst in Folge der Erfindung der Oper, die eben aus dem Drange der italienischen Natur nach freier, nicht durch die Harmonie gebundener musika- lischer Bewegung, nach freiem Ausdruck des Charakters und Verlaufs subjectiver Stimmungen, wie solche im Drama auftreten, hervorgegangen ist. Die durch das Madrigal über die kirchliche Sphäre hinaus in weitere Kreise gedrungene Vocalkunstmusik folgt endlich seit dem Schlusse des sechs- zehenten Jahrhunderts dem auf andern Kunstgebieten schon früher durchge- brochenen Streben, die überlieferten stereotypen Formen zu verlassen und mit vollkommen freier Handhabung der Mittel, mit freier Erfindung einer schön charakteristischen, lediglich dem Wesen des eben vorliegenden Gegenstandes selbst entnommenen Darstellung der Kunststoffe sich zu widmen; angeregt durch die Erinnerung an das antike Drama, beginnt man dramatische und zwar zunächst mythologische Stoffe, welche charakteristische, sangbare Situationen und Handlungen darbieten, mit Musik in Scene zu setzen. Hiemit ist der Musik ein neues Gebiet eröffnet, das Gebiet des bestimmtern Ausdrucks des Individuellen, des Pathetischen und des Rührenden, sowie der dra- matischen, die Entwicklung einer Stimmung verfolgenden, in ihr Einzelnes eingehenden Schilderung. Die Opernmusik ist ebendeßwegen zunächst blos Recitation, hie und da wechselnd mit kleinen, zusammenfassenden, ab- schließenden Chören, sowie verbunden mit einer zur Belebung dienenden, wenn gleich noch sehr einfachen Instrumentenmusik; aber das neue Prinzip der Individualisirung der Musik ist damit seiner noch sehr unentwickelten Gestalt ungeachtet ein für allemal aufgestellt und verfehlt nicht vorherrschenden Anklang in Italien zu gewinnen. Das geistliche Drama, das Oratorium und Cantate erhält im Verlauf des siebenzehenten Jahrhunderts, besonders durch Carissimi eine schöne, bewegte Recitation mit melodischen Arien und vollern, kunstreichern Chören vereinigende Ausbildung, durch welche diese Kunstgattung zwischen die im Ganzen noch sehr musiklose Oper und die Harmoniefülle der Kirchenmusik in die Mitte tritt. Seit dieser Zeit ist nun ein entschie- dener Einfluß des von Oper und Oratorium vertretenen rhythmischmelodi- schen Prinzips auf die kirchliche Musik vorhanden. In Neapel und Venedig, wo die Oper ihre Hauptstätte findet, wird, nicht ohne Einflüsse von Deutschland her, auch die Kirchenmusik freier in Melodie, Rhythmus, Har- monie und Charakteristik; die Stimmen werden individualisirt, sie treten in den polyphonischen Werken schärfer und gesonderter aus einander, sie erhalten belebtere rhythmische Gliederung, mannigfaltige instrumentale Be-
individualiſiren, ſondern ſie nur zum Ganzen mitwirken laſſen will; hiebei aber konnte nicht beharrt werden, der italieniſche Charakter verlangte un- mittelbar in’s Ohr fallende Klarheit des Ganges der Melodie, und dieſem Trieb kann auch die römiſche Schule nicht widerſtehen. Vollkommen aber wird dieſes Prinzip der Stimmenindividualiſirung in’s Leben eingeführt erſt in Folge der Erfindung der Oper, die eben aus dem Drange der italieniſchen Natur nach freier, nicht durch die Harmonie gebundener muſika- liſcher Bewegung, nach freiem Ausdruck des Charakters und Verlaufs ſubjectiver Stimmungen, wie ſolche im Drama auftreten, hervorgegangen iſt. Die durch das Madrigal über die kirchliche Sphäre hinaus in weitere Kreiſe gedrungene Vocalkunſtmuſik folgt endlich ſeit dem Schluſſe des ſechs- zehenten Jahrhunderts dem auf andern Kunſtgebieten ſchon früher durchge- brochenen Streben, die überlieferten ſtereotypen Formen zu verlaſſen und mit vollkommen freier Handhabung der Mittel, mit freier Erfindung einer ſchön charakteriſtiſchen, lediglich dem Weſen des eben vorliegenden Gegenſtandes ſelbſt entnommenen Darſtellung der Kunſtſtoffe ſich zu widmen; angeregt durch die Erinnerung an das antike Drama, beginnt man dramatiſche und zwar zunächſt mythologiſche Stoffe, welche charakteriſtiſche, ſangbare Situationen und Handlungen darbieten, mit Muſik in Scene zu ſetzen. Hiemit iſt der Muſik ein neues Gebiet eröffnet, das Gebiet des beſtimmtern Ausdrucks des Individuellen, des Pathetiſchen und des Rührenden, ſowie der dra- matiſchen, die Entwicklung einer Stimmung verfolgenden, in ihr Einzelnes eingehenden Schilderung. Die Opernmuſik iſt ebendeßwegen zunächſt blos Recitation, hie und da wechſelnd mit kleinen, zuſammenfaſſenden, ab- ſchließenden Chören, ſowie verbunden mit einer zur Belebung dienenden, wenn gleich noch ſehr einfachen Inſtrumentenmuſik; aber das neue Prinzip der Individualiſirung der Muſik iſt damit ſeiner noch ſehr unentwickelten Geſtalt ungeachtet ein für allemal aufgeſtellt und verfehlt nicht vorherrſchenden Anklang in Italien zu gewinnen. Das geiſtliche Drama, das Oratorium und Cantate erhält im Verlauf des ſiebenzehenten Jahrhunderts, beſonders durch Cariſſimi eine ſchöne, bewegte Recitation mit melodiſchen Arien und vollern, kunſtreichern Chören vereinigende Ausbildung, durch welche dieſe Kunſtgattung zwiſchen die im Ganzen noch ſehr muſikloſe Oper und die Harmoniefülle der Kirchenmuſik in die Mitte tritt. Seit dieſer Zeit iſt nun ein entſchie- dener Einfluß des von Oper und Oratorium vertretenen rhythmiſchmelodi- ſchen Prinzips auf die kirchliche Muſik vorhanden. In Neapel und Venedig, wo die Oper ihre Hauptſtätte findet, wird, nicht ohne Einflüſſe von Deutſchland her, auch die Kirchenmuſik freier in Melodie, Rhythmus, Har- monie und Charakteriſtik; die Stimmen werden individualiſirt, ſie treten in den polyphoniſchen Werken ſchärfer und geſonderter aus einander, ſie erhalten belebtere rhythmiſche Gliederung, mannigfaltige inſtrumentale Be-
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[1137/0375]
individualiſiren, ſondern ſie nur zum Ganzen mitwirken laſſen will; hiebei
aber konnte nicht beharrt werden, der italieniſche Charakter verlangte un-
mittelbar in’s Ohr fallende Klarheit des Ganges der Melodie, und dieſem
Trieb kann auch die römiſche Schule nicht widerſtehen. Vollkommen aber
wird dieſes Prinzip der Stimmenindividualiſirung in’s Leben eingeführt
erſt in Folge der Erfindung der Oper, die eben aus dem Drange der
italieniſchen Natur nach freier, nicht durch die Harmonie gebundener muſika-
liſcher Bewegung, nach freiem Ausdruck des Charakters und Verlaufs
ſubjectiver Stimmungen, wie ſolche im Drama auftreten, hervorgegangen
iſt. Die durch das Madrigal über die kirchliche Sphäre hinaus in weitere
Kreiſe gedrungene Vocalkunſtmuſik folgt endlich ſeit dem Schluſſe des ſechs-
zehenten Jahrhunderts dem auf andern Kunſtgebieten ſchon früher durchge-
brochenen Streben, die überlieferten ſtereotypen Formen zu verlaſſen und mit
vollkommen freier Handhabung der Mittel, mit freier Erfindung einer ſchön
charakteriſtiſchen, lediglich dem Weſen des eben vorliegenden Gegenſtandes ſelbſt
entnommenen Darſtellung der Kunſtſtoffe ſich zu widmen; angeregt durch
die Erinnerung an das antike Drama, beginnt man dramatiſche und zwar
zunächſt mythologiſche Stoffe, welche charakteriſtiſche, ſangbare Situationen
und Handlungen darbieten, mit Muſik in Scene zu ſetzen. Hiemit iſt der
Muſik ein neues Gebiet eröffnet, das Gebiet des beſtimmtern Ausdrucks
des Individuellen, des Pathetiſchen und des Rührenden, ſowie der dra-
matiſchen, die Entwicklung einer Stimmung verfolgenden, in ihr Einzelnes
eingehenden Schilderung. Die Opernmuſik iſt ebendeßwegen zunächſt blos
Recitation, hie und da wechſelnd mit kleinen, zuſammenfaſſenden, ab-
ſchließenden Chören, ſowie verbunden mit einer zur Belebung dienenden,
wenn gleich noch ſehr einfachen Inſtrumentenmuſik; aber das neue Prinzip
der Individualiſirung der Muſik iſt damit ſeiner noch ſehr unentwickelten
Geſtalt ungeachtet ein für allemal aufgeſtellt und verfehlt nicht vorherrſchenden
Anklang in Italien zu gewinnen. Das geiſtliche Drama, das Oratorium
und Cantate erhält im Verlauf des ſiebenzehenten Jahrhunderts, beſonders durch
Cariſſimi eine ſchöne, bewegte Recitation mit melodiſchen Arien und vollern,
kunſtreichern Chören vereinigende Ausbildung, durch welche dieſe Kunſtgattung
zwiſchen die im Ganzen noch ſehr muſikloſe Oper und die Harmoniefülle
der Kirchenmuſik in die Mitte tritt. Seit dieſer Zeit iſt nun ein entſchie-
dener Einfluß des von Oper und Oratorium vertretenen rhythmiſchmelodi-
ſchen Prinzips auf die kirchliche Muſik vorhanden. In Neapel und Venedig,
wo die Oper ihre Hauptſtätte findet, wird, nicht ohne Einflüſſe von
Deutſchland her, auch die Kirchenmuſik freier in Melodie, Rhythmus, Har-
monie und Charakteriſtik; die Stimmen werden individualiſirt, ſie treten
in den polyphoniſchen Werken ſchärfer und geſonderter aus einander, ſie
erhalten belebtere rhythmiſche Gliederung, mannigfaltige inſtrumentale Be-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/375>, abgerufen am 21.11.2024.
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