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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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So reich und erhebend der Entwicklungsgang der Musik bis zur ersten
Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts ist, so unbefriedigend, ja beun-
ruhigend ist der Blick auf ihre letzte, jetzige Periode, die Kunst der Sub-
jectivität scheint eben durch diesen ihren subjectiven Charakter ihrer Selbst-
auflösung entgegengetrieben zu werden. Meyerbeer bezeichnet zwar in
der Oper einen Fortschritt, indem er durch umfassenden und energischen
Gebrauch der dramatischen Mittel an die Stelle romantischer Weichheit und
italienischer Anmuth einen kräftigern Ausdruck, eine schärfere Charakteristik
des Einzelnen setzt, aber die plastische Klarheit und Schönheit der Musik
kann neben der theatralischen Breite und Ueberfülle der großen Oper nicht
bestehen, und an den Stoffen zeigt es sich, daß die musikalische Dichtung
des Charakters, die Musik des tiefern Gehalts verlustig gegangen, daß sie
eine subjective Technik geworden ist, welche nicht mehr durch empfindende
Phantasie zu einem für die Musik spezifisch geeigneten Inhalte hingetrieben,
sondern durch einseitige Rücksicht auf die dramatische Wirkung zur Wahl
ihrer Süjet's bestimmt wird. Daß es so nicht fortgehen kann, oder auch,
daß so in's Unendliche fortgemacht werden könnte, ohne daß damit für die
Musik etwas Höheres wiedergewonnen wäre, dieses Gefühl haben vor Allem
die Meyerbecr'schen Opern hervorgerufen, da sie trotz der eminenten Be-
fähigung des Componisten zum Musikdrama der musikalischen Empfindung
theils zu viel, theils zu wenig bieten, zu viel durch die Stoffmasse und den
äußern Glanz und Effect piquanter Situationen, zu wenig durch den
Mangel des poetischen Hauchs der Idealität und der Gefühlswärme, der
das Kunstwerk durchwehen soll, sowie durch das Gemachte, Geschraubte,
das aus der Textdichtung so vielfach heraustritt. Anders hat für die Musik
Mendelssohn gewirkt; bei ihm ist vor Allem edler Geschmack, in ihm
tritt die Phantasie auf als gebildet empfindende Phantasie, es
ist wieder Form und Gehalt, es ist das Streben des wahrhaft gebildeten
Geistes da nach Beidem, die Musik bekommt ideale Klarheit, Gedanken,
Gefühl, gediegene Composition, die freie Subjectivität versenkt sich in die
objectiven Formen, damit die Musik wieder Kunst werde, die scharfe Spitze
der Modernität biegt sich um und erweicht sich, die Tonkunst wird wieder
Selbstzweck, der Geist lebt und webt in ihr, taucht in ihre Fülle unter, um
Schätze zu heben, welche ältere verwandte Meister noch zurückgelassen; eine
neue Blüthe reiner, warmer und dabei fein poetischer Musik scheint mitten
in einem durch Reflexion zerklüfteten, großartiger Production unfähigen
Zeitalter zu entstehen, und auch an kräftiger Charakteristik, an gesundfroher
Frische fehlt es den hervorstechenden unter den Compositionen des Meisters
nicht. Allein die Erscheinung bleibt vereinzelt, und auch die andere Seite
der gebildet empfindenden Phantasie macht sich bemerklich, der Mangel an
durchgreifender Kraft, an einfacher Männlichkeit und ebendamit auch an der

So reich und erhebend der Entwicklungsgang der Muſik bis zur erſten
Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts iſt, ſo unbefriedigend, ja beun-
ruhigend iſt der Blick auf ihre letzte, jetzige Periode, die Kunſt der Sub-
jectivität ſcheint eben durch dieſen ihren ſubjectiven Charakter ihrer Selbſt-
auflöſung entgegengetrieben zu werden. Meyerbeer bezeichnet zwar in
der Oper einen Fortſchritt, indem er durch umfaſſenden und energiſchen
Gebrauch der dramatiſchen Mittel an die Stelle romantiſcher Weichheit und
italieniſcher Anmuth einen kräftigern Ausdruck, eine ſchärfere Charakteriſtik
des Einzelnen ſetzt, aber die plaſtiſche Klarheit und Schönheit der Muſik
kann neben der theatraliſchen Breite und Ueberfülle der großen Oper nicht
beſtehen, und an den Stoffen zeigt es ſich, daß die muſikaliſche Dichtung
des Charakters, die Muſik des tiefern Gehalts verluſtig gegangen, daß ſie
eine ſubjective Technik geworden iſt, welche nicht mehr durch empfindende
Phantaſie zu einem für die Muſik ſpezifiſch geeigneten Inhalte hingetrieben,
ſondern durch einſeitige Rückſicht auf die dramatiſche Wirkung zur Wahl
ihrer Süjet’s beſtimmt wird. Daß es ſo nicht fortgehen kann, oder auch,
daß ſo in’s Unendliche fortgemacht werden könnte, ohne daß damit für die
Muſik etwas Höheres wiedergewonnen wäre, dieſes Gefühl haben vor Allem
die Meyerbecr’ſchen Opern hervorgerufen, da ſie trotz der eminenten Be-
fähigung des Componiſten zum Muſikdrama der muſikaliſchen Empfindung
theils zu viel, theils zu wenig bieten, zu viel durch die Stoffmaſſe und den
äußern Glanz und Effect piquanter Situationen, zu wenig durch den
Mangel des poetiſchen Hauchs der Idealität und der Gefühlswärme, der
das Kunſtwerk durchwehen ſoll, ſowie durch das Gemachte, Geſchraubte,
das aus der Textdichtung ſo vielfach heraustritt. Anders hat für die Muſik
Mendelsſohn gewirkt; bei ihm iſt vor Allem edler Geſchmack, in ihm
tritt die Phantaſie auf als gebildet empfindende Phantaſie, es
iſt wieder Form und Gehalt, es iſt das Streben des wahrhaft gebildeten
Geiſtes da nach Beidem, die Muſik bekommt ideale Klarheit, Gedanken,
Gefühl, gediegene Compoſition, die freie Subjectivität verſenkt ſich in die
objectiven Formen, damit die Muſik wieder Kunſt werde, die ſcharfe Spitze
der Modernität biegt ſich um und erweicht ſich, die Tonkunſt wird wieder
Selbſtzweck, der Geiſt lebt und webt in ihr, taucht in ihre Fülle unter, um
Schätze zu heben, welche ältere verwandte Meiſter noch zurückgelaſſen; eine
neue Blüthe reiner, warmer und dabei fein poetiſcher Muſik ſcheint mitten
in einem durch Reflexion zerklüfteten, großartiger Production unfähigen
Zeitalter zu entſtehen, und auch an kräftiger Charakteriſtik, an geſundfroher
Friſche fehlt es den hervorſtechenden unter den Compoſitionen des Meiſters
nicht. Allein die Erſcheinung bleibt vereinzelt, und auch die andere Seite
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[1149/0387] So reich und erhebend der Entwicklungsgang der Muſik bis zur erſten Hälfte des gegenwärtigen Jahrhunderts iſt, ſo unbefriedigend, ja beun- ruhigend iſt der Blick auf ihre letzte, jetzige Periode, die Kunſt der Sub- jectivität ſcheint eben durch dieſen ihren ſubjectiven Charakter ihrer Selbſt- auflöſung entgegengetrieben zu werden. Meyerbeer bezeichnet zwar in der Oper einen Fortſchritt, indem er durch umfaſſenden und energiſchen Gebrauch der dramatiſchen Mittel an die Stelle romantiſcher Weichheit und italieniſcher Anmuth einen kräftigern Ausdruck, eine ſchärfere Charakteriſtik des Einzelnen ſetzt, aber die plaſtiſche Klarheit und Schönheit der Muſik kann neben der theatraliſchen Breite und Ueberfülle der großen Oper nicht beſtehen, und an den Stoffen zeigt es ſich, daß die muſikaliſche Dichtung des Charakters, die Muſik des tiefern Gehalts verluſtig gegangen, daß ſie eine ſubjective Technik geworden iſt, welche nicht mehr durch empfindende Phantaſie zu einem für die Muſik ſpezifiſch geeigneten Inhalte hingetrieben, ſondern durch einſeitige Rückſicht auf die dramatiſche Wirkung zur Wahl ihrer Süjet’s beſtimmt wird. Daß es ſo nicht fortgehen kann, oder auch, daß ſo in’s Unendliche fortgemacht werden könnte, ohne daß damit für die Muſik etwas Höheres wiedergewonnen wäre, dieſes Gefühl haben vor Allem die Meyerbecr’ſchen Opern hervorgerufen, da ſie trotz der eminenten Be- fähigung des Componiſten zum Muſikdrama der muſikaliſchen Empfindung theils zu viel, theils zu wenig bieten, zu viel durch die Stoffmaſſe und den äußern Glanz und Effect piquanter Situationen, zu wenig durch den Mangel des poetiſchen Hauchs der Idealität und der Gefühlswärme, der das Kunſtwerk durchwehen ſoll, ſowie durch das Gemachte, Geſchraubte, das aus der Textdichtung ſo vielfach heraustritt. Anders hat für die Muſik Mendelsſohn gewirkt; bei ihm iſt vor Allem edler Geſchmack, in ihm tritt die Phantaſie auf als gebildet empfindende Phantaſie, es iſt wieder Form und Gehalt, es iſt das Streben des wahrhaft gebildeten Geiſtes da nach Beidem, die Muſik bekommt ideale Klarheit, Gedanken, Gefühl, gediegene Compoſition, die freie Subjectivität verſenkt ſich in die objectiven Formen, damit die Muſik wieder Kunſt werde, die ſcharfe Spitze der Modernität biegt ſich um und erweicht ſich, die Tonkunſt wird wieder Selbſtzweck, der Geiſt lebt und webt in ihr, taucht in ihre Fülle unter, um Schätze zu heben, welche ältere verwandte Meiſter noch zurückgelaſſen; eine neue Blüthe reiner, warmer und dabei fein poetiſcher Muſik ſcheint mitten in einem durch Reflexion zerklüfteten, großartiger Production unfähigen Zeitalter zu entſtehen, und auch an kräftiger Charakteriſtik, an geſundfroher Friſche fehlt es den hervorſtechenden unter den Compoſitionen des Meiſters nicht. Allein die Erſcheinung bleibt vereinzelt, und auch die andere Seite der gebildet empfindenden Phantaſie macht ſich bemerklich, der Mangel an durchgreifender Kraft, an einfacher Männlichkeit und ebendamit auch an der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/387>, abgerufen am 21.11.2024.