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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Ganzen, ein vermittelndes Moment des Besondern. Die Puncte laufen
in gleichmäßiger Continuität fort und expandiren sich so zur unendlichen
Linie; es muß etwas eintreten, was die Linie in Einschnitte von bestimmter
Zeitdauer theilt und innerhalb derselben weiter gliedert. Dieses wichtige
Moment, den Takt, bringt in wirklicher Ausbildung natürlich erst die
Kunst hinzu; sie kann es aber nicht aus dem Leeren nehmen, irgend ein
Keim, Ansatz muß in dem Gefühle selbst, noch abgesehen von der Erhebung
in die Kunst, liegen. Es handelt sich hier von einem allgemeinen Gesetze,
das zunächst in der Sphäre der physischen Bewegungen sichtbar ist und
dessen Bedeutung man leicht erkennt, wenn man zusieht, wie manche Arbeiter
nicht die Hälfte dessen leisten, was sie können, wenn sie nicht ihr Werk
mit taktmäßigem Rufen oder Singen begleiten. Instinctmäßig setzt sich der
physisch thätige Mensch ein System wiederkehrender Zeitabschnitte mit je
einer bestimmten Gruppe von Momenten, die sich in accentuirte und nicht
accentuirte theilen. Er spart und erhöht dadurch seine Kraft und er ahmt
hierin die Natur selbst nach. Jede Kraft will und muß abwechselnd sich
spannen und nachlassen. Dieß geht durch das unorganische und organische
Reich. Das Periodische beherrscht als Drehung den Lauf der Himmels-
körper, Flamme, Wind, Woge des Meeres, der See'n, des Wasserfalls,
Athemholen und Herzschlag der Thiere und Menschen theilen die gleich-
fließende Linie in die bestimmten Einschnitte, worin sich stärker angesam-
melter Stoß von einem Momente des Nachlassens, ein Druck, ein Aus-
pressen von einem Nachgeben und Einziehen unterscheidet; in der Oekonomie
des animalischen Kraftaufwandes kehrt das Gesetz als Wechsel des Wachens
und Schlafes wieder. Selbst die organisch bauende Kraft arbeitet in geord-
neter an- und absetzender Theilung als Zweige- und Blätterstellung an der
Pflanze, in den Gelenkbildungen, Ausstrahlungen und ausathmenden ein-
fachen Streckungen des Skeletts. Dem Gebiete blinder Nothwendigkeit
entstiegen, aber noch als unbewußtes Thun gebunden, erscheint der geordnete
Wechselschlag mit Hebung und Senkung, stärkerem und schwächerem Moment
im Fluge der Vögel, im Gange der Thiere und Menschen, selbst im Kriechen
der Raupe. In den freien Bewegungen des Menschen scheint das Gesetz
verloren zu gehen, doch konnte der Tanz und die orchestisch geregelte Pan-
tomime nicht ohne innern Grund, ohne einen im kunstlosen Gebiete vor-
gebildeten Keim entstehen. Gerade aber im Gebiete der höheren freien Thä-
tigkeit, der individuellen und gemeinschaftlichen, tritt es deutlich wieder zu
Tage, denn nicht umsonst, sondern um mit seinen Kräften im weitesten
Sinne des Worts durch die Einschnitte des Anlaufs und Ablaufs, der
Sammlung und Abspannung Haus zu halten, hat der Mensch sein Leben
in Stunden, Wochen, Jahre u. s. w. getheilt, die Werktage mit Tagen
der Feier durchflochten. In den Mittelpunct des geistigen Lebens, in das

Ganzen, ein vermittelndes Moment des Beſondern. Die Puncte laufen
in gleichmäßiger Continuität fort und expandiren ſich ſo zur unendlichen
Linie; es muß etwas eintreten, was die Linie in Einſchnitte von beſtimmter
Zeitdauer theilt und innerhalb derſelben weiter gliedert. Dieſes wichtige
Moment, den Takt, bringt in wirklicher Ausbildung natürlich erſt die
Kunſt hinzu; ſie kann es aber nicht aus dem Leeren nehmen, irgend ein
Keim, Anſatz muß in dem Gefühle ſelbſt, noch abgeſehen von der Erhebung
in die Kunſt, liegen. Es handelt ſich hier von einem allgemeinen Geſetze,
das zunächſt in der Sphäre der phyſiſchen Bewegungen ſichtbar iſt und
deſſen Bedeutung man leicht erkennt, wenn man zuſieht, wie manche Arbeiter
nicht die Hälfte deſſen leiſten, was ſie können, wenn ſie nicht ihr Werk
mit taktmäßigem Rufen oder Singen begleiten. Inſtinctmäßig ſetzt ſich der
phyſiſch thätige Menſch ein Syſtem wiederkehrender Zeitabſchnitte mit je
einer beſtimmten Gruppe von Momenten, die ſich in accentuirte und nicht
accentuirte theilen. Er ſpart und erhöht dadurch ſeine Kraft und er ahmt
hierin die Natur ſelbſt nach. Jede Kraft will und muß abwechſelnd ſich
ſpannen und nachlaſſen. Dieß geht durch das unorganiſche und organiſche
Reich. Das Periodiſche beherrſcht als Drehung den Lauf der Himmels-
körper, Flamme, Wind, Woge des Meeres, der See’n, des Waſſerfalls,
Athemholen und Herzſchlag der Thiere und Menſchen theilen die gleich-
fließende Linie in die beſtimmten Einſchnitte, worin ſich ſtärker angeſam-
melter Stoß von einem Momente des Nachlaſſens, ein Druck, ein Aus-
preſſen von einem Nachgeben und Einziehen unterſcheidet; in der Oekonomie
des animaliſchen Kraftaufwandes kehrt das Geſetz als Wechſel des Wachens
und Schlafes wieder. Selbſt die organiſch bauende Kraft arbeitet in geord-
neter an- und abſetzender Theilung als Zweige- und Blätterſtellung an der
Pflanze, in den Gelenkbildungen, Ausſtrahlungen und ausathmenden ein-
fachen Streckungen des Skeletts. Dem Gebiete blinder Nothwendigkeit
entſtiegen, aber noch als unbewußtes Thun gebunden, erſcheint der geordnete
Wechſelſchlag mit Hebung und Senkung, ſtärkerem und ſchwächerem Moment
im Fluge der Vögel, im Gange der Thiere und Menſchen, ſelbſt im Kriechen
der Raupe. In den freien Bewegungen des Menſchen ſcheint das Geſetz
verloren zu gehen, doch konnte der Tanz und die orcheſtiſch geregelte Pan-
tomime nicht ohne innern Grund, ohne einen im kunſtloſen Gebiete vor-
gebildeten Keim entſtehen. Gerade aber im Gebiete der höheren freien Thä-
tigkeit, der individuellen und gemeinſchaftlichen, tritt es deutlich wieder zu
Tage, denn nicht umſonſt, ſondern um mit ſeinen Kräften im weiteſten
Sinne des Worts durch die Einſchnitte des Anlaufs und Ablaufs, der
Sammlung und Abſpannung Haus zu halten, hat der Menſch ſein Leben
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der Feier durchflochten. In den Mittelpunct des geiſtigen Lebens, in das

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[804/0042] Ganzen, ein vermittelndes Moment des Beſondern. Die Puncte laufen in gleichmäßiger Continuität fort und expandiren ſich ſo zur unendlichen Linie; es muß etwas eintreten, was die Linie in Einſchnitte von beſtimmter Zeitdauer theilt und innerhalb derſelben weiter gliedert. Dieſes wichtige Moment, den Takt, bringt in wirklicher Ausbildung natürlich erſt die Kunſt hinzu; ſie kann es aber nicht aus dem Leeren nehmen, irgend ein Keim, Anſatz muß in dem Gefühle ſelbſt, noch abgeſehen von der Erhebung in die Kunſt, liegen. Es handelt ſich hier von einem allgemeinen Geſetze, das zunächſt in der Sphäre der phyſiſchen Bewegungen ſichtbar iſt und deſſen Bedeutung man leicht erkennt, wenn man zuſieht, wie manche Arbeiter nicht die Hälfte deſſen leiſten, was ſie können, wenn ſie nicht ihr Werk mit taktmäßigem Rufen oder Singen begleiten. Inſtinctmäßig ſetzt ſich der phyſiſch thätige Menſch ein Syſtem wiederkehrender Zeitabſchnitte mit je einer beſtimmten Gruppe von Momenten, die ſich in accentuirte und nicht accentuirte theilen. Er ſpart und erhöht dadurch ſeine Kraft und er ahmt hierin die Natur ſelbſt nach. Jede Kraft will und muß abwechſelnd ſich ſpannen und nachlaſſen. Dieß geht durch das unorganiſche und organiſche Reich. Das Periodiſche beherrſcht als Drehung den Lauf der Himmels- körper, Flamme, Wind, Woge des Meeres, der See’n, des Waſſerfalls, Athemholen und Herzſchlag der Thiere und Menſchen theilen die gleich- fließende Linie in die beſtimmten Einſchnitte, worin ſich ſtärker angeſam- melter Stoß von einem Momente des Nachlaſſens, ein Druck, ein Aus- preſſen von einem Nachgeben und Einziehen unterſcheidet; in der Oekonomie des animaliſchen Kraftaufwandes kehrt das Geſetz als Wechſel des Wachens und Schlafes wieder. Selbſt die organiſch bauende Kraft arbeitet in geord- neter an- und abſetzender Theilung als Zweige- und Blätterſtellung an der Pflanze, in den Gelenkbildungen, Ausſtrahlungen und ausathmenden ein- fachen Streckungen des Skeletts. Dem Gebiete blinder Nothwendigkeit entſtiegen, aber noch als unbewußtes Thun gebunden, erſcheint der geordnete Wechſelſchlag mit Hebung und Senkung, ſtärkerem und ſchwächerem Moment im Fluge der Vögel, im Gange der Thiere und Menſchen, ſelbſt im Kriechen der Raupe. In den freien Bewegungen des Menſchen ſcheint das Geſetz verloren zu gehen, doch konnte der Tanz und die orcheſtiſch geregelte Pan- tomime nicht ohne innern Grund, ohne einen im kunſtloſen Gebiete vor- gebildeten Keim entſtehen. Gerade aber im Gebiete der höheren freien Thä- tigkeit, der individuellen und gemeinſchaftlichen, tritt es deutlich wieder zu Tage, denn nicht umſonſt, ſondern um mit ſeinen Kräften im weiteſten Sinne des Worts durch die Einſchnitte des Anlaufs und Ablaufs, der Sammlung und Abſpannung Haus zu halten, hat der Menſch ſein Leben in Stunden, Wochen, Jahre u. ſ. w. getheilt, die Werktage mit Tagen der Feier durchflochten. In den Mittelpunct des geiſtigen Lebens, in das

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 804. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/42>, abgerufen am 23.11.2024.