Selbstbewußtsein, verfolgt Hegel den innern Grund des Takts: es ist die Rückkehr des Ich in sich selbst aus der unbestimmten Continuität seines Zeitlebens, das Abbrechen dieser Linie, um seiner sich zu erinnern und bei sich zu sein, was uns im Takt unmittelbar entgegentritt (Aesth. Th. 3. S. 159 ff.). Der Geist als Kunstthätigkeit hat nun dieses Gesetz in die Musik eingetragen. Unser Bewußtsein sagt uns nichts darüber, daß er es im Gefühle selbst als dunkeln Keim vorgefunden hat. Wir kennen sein naturnothwendiges Vorbild nur im Gebiete des Sichtbaren, es entschwindet unserer Beobachtung im dunkelsten Gebiete des Seelenlebens, aber dieses wird auch seinen Pulsschlag heben und der messenden, zählenden Kunst ist nur die Reminiscenz der verborgenen Vorgänge verloren, die sie befestigt und ordnet. Ungleich deutlicher unterscheiden wir im Gefühlsleben die Grundlagen dessen, was in der Kunst das Tempo ist; die Psychologie hat diesen Punct vielfach berührt (vergl. z. B. Maaß, Versuch über die Gefühle. §. 10. Vers. über die Leidensch. §. 14). Hier sind gewisse physiologische Erscheinungen nicht blos Beispiel, sondern Symptom: der beschleunigte oder gehemmte, wild aufgeregte oder sanft wallende, sachte schleichende Puls, Gang und das ganze Gebärdenspiel weisen unzweifelhaft auf ein inneres Bewegungsleben, dessen qualitative Unterschiede zu Verhältnissen der Lang- samkeit und Schnelligkeit werden. So entschieden aber diese Erscheinungen auch sprechen, so führen sie uns doch nur zu demselben Geheimniß, vor dem wir schon im §. 752 stillstehen mußten: zu der Annahme eines Schwing- ungslebens der Nerven, dessen Begriff wir auf den Geist überzutragen ge- nöthigt sind, ohne das Wie finden zu können. Wir können nicht anders, als bildlich, sagen: das stark bewegte Gemüth schwingt schneller als das sanft bewegte u. s. w. Die Arten der Uebergänge von einem Gefühls- moment zum andern, wie sie sich abstracter in staccato und legato, inniger in den verschiedensten Arten des Ueberleitens und Vermittelns ausdrücken, und die Pausen sind es, die der Schlußsatz des §. ebenfalls als Ausfluß innerer Gesetze des Gemüthslebens aufführt. Das Empfinden hat Augen- blicke punctueller Affection, die sich auch außerhalb der Musik in der Selbst- beobachtung unterscheiden lassen, es sind Momente der Unruhe, wo das Gefühl nicht in den tenor einer Strömung münden kann, oder des stoß- weise auftretenden Kraftgefühls; ein andermal, und dieß ist seine naturge- mäßere Bewegung, wogt es als ungetheilte Masse in der Continuität des starken oder wilden Ergusses, der nicht duldet, daß die Momente sich ab- sondern, weil er im vorhergehenden das folgende, im folgenden das vor- hergehende innig haben und bewahren will. Die Pausen sind eine Zeit der Stille, worin das Gefühl zu schweigen scheint, während in Wahrheit das vorhergehende ausklingt und das werdende sich vorbereitet.
Selbſtbewußtſein, verfolgt Hegel den innern Grund des Takts: es iſt die Rückkehr des Ich in ſich ſelbſt aus der unbeſtimmten Continuität ſeines Zeitlebens, das Abbrechen dieſer Linie, um ſeiner ſich zu erinnern und bei ſich zu ſein, was uns im Takt unmittelbar entgegentritt (Aeſth. Th. 3. S. 159 ff.). Der Geiſt als Kunſtthätigkeit hat nun dieſes Geſetz in die Muſik eingetragen. Unſer Bewußtſein ſagt uns nichts darüber, daß er es im Gefühle ſelbſt als dunkeln Keim vorgefunden hat. Wir kennen ſein naturnothwendiges Vorbild nur im Gebiete des Sichtbaren, es entſchwindet unſerer Beobachtung im dunkelſten Gebiete des Seelenlebens, aber dieſes wird auch ſeinen Pulsſchlag heben und der meſſenden, zählenden Kunſt iſt nur die Reminiſcenz der verborgenen Vorgänge verloren, die ſie befeſtigt und ordnet. Ungleich deutlicher unterſcheiden wir im Gefühlsleben die Grundlagen deſſen, was in der Kunſt das Tempo iſt; die Pſychologie hat dieſen Punct vielfach berührt (vergl. z. B. Maaß, Verſuch über die Gefühle. §. 10. Verſ. über die Leidenſch. §. 14). Hier ſind gewiſſe phyſiologiſche Erſcheinungen nicht blos Beiſpiel, ſondern Symptom: der beſchleunigte oder gehemmte, wild aufgeregte oder ſanft wallende, ſachte ſchleichende Puls, Gang und das ganze Gebärdenſpiel weiſen unzweifelhaft auf ein inneres Bewegungsleben, deſſen qualitative Unterſchiede zu Verhältniſſen der Lang- ſamkeit und Schnelligkeit werden. So entſchieden aber dieſe Erſcheinungen auch ſprechen, ſo führen ſie uns doch nur zu demſelben Geheimniß, vor dem wir ſchon im §. 752 ſtillſtehen mußten: zu der Annahme eines Schwing- ungslebens der Nerven, deſſen Begriff wir auf den Geiſt überzutragen ge- nöthigt ſind, ohne das Wie finden zu können. Wir können nicht anders, als bildlich, ſagen: das ſtark bewegte Gemüth ſchwingt ſchneller als das ſanft bewegte u. ſ. w. Die Arten der Uebergänge von einem Gefühls- moment zum andern, wie ſie ſich abſtracter in staccato und legato, inniger in den verſchiedenſten Arten des Ueberleitens und Vermittelns ausdrücken, und die Pauſen ſind es, die der Schlußſatz des §. ebenfalls als Ausfluß innerer Geſetze des Gemüthslebens aufführt. Das Empfinden hat Augen- blicke punctueller Affection, die ſich auch außerhalb der Muſik in der Selbſt- beobachtung unterſcheiden laſſen, es ſind Momente der Unruhe, wo das Gefühl nicht in den tenor einer Strömung münden kann, oder des ſtoß- weiſe auftretenden Kraftgefühls; ein andermal, und dieß iſt ſeine naturge- mäßere Bewegung, wogt es als ungetheilte Maſſe in der Continuität des ſtarken oder wilden Erguſſes, der nicht duldet, daß die Momente ſich ab- ſondern, weil er im vorhergehenden das folgende, im folgenden das vor- hergehende innig haben und bewahren will. Die Pauſen ſind eine Zeit der Stille, worin das Gefühl zu ſchweigen ſcheint, während in Wahrheit das vorhergehende ausklingt und das werdende ſich vorbereitet.
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Selbſtbewußtſein, verfolgt Hegel den innern Grund des Takts: es iſt die
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Zeitlebens, das Abbrechen dieſer Linie, um ſeiner ſich zu erinnern und bei
ſich zu ſein, was uns im Takt unmittelbar entgegentritt (Aeſth. Th. 3.
S. 159 ff.). Der Geiſt als Kunſtthätigkeit hat nun dieſes Geſetz in die
Muſik eingetragen. Unſer Bewußtſein ſagt uns nichts darüber, daß er es
im Gefühle ſelbſt als dunkeln Keim vorgefunden hat. Wir kennen ſein
naturnothwendiges Vorbild nur im Gebiete des Sichtbaren, es entſchwindet
unſerer Beobachtung im dunkelſten Gebiete des Seelenlebens, aber dieſes
wird auch ſeinen Pulsſchlag heben und der meſſenden, zählenden Kunſt iſt
nur die Reminiſcenz der verborgenen Vorgänge verloren, die ſie befeſtigt
und ordnet. Ungleich deutlicher unterſcheiden wir im Gefühlsleben die
Grundlagen deſſen, was in der Kunſt das Tempo iſt; die Pſychologie hat
dieſen Punct vielfach berührt (vergl. z. B. Maaß, Verſuch über die Gefühle.
§. 10. Verſ. über die Leidenſch. §. 14). Hier ſind gewiſſe phyſiologiſche
Erſcheinungen nicht blos Beiſpiel, ſondern Symptom: der beſchleunigte oder
gehemmte, wild aufgeregte oder ſanft wallende, ſachte ſchleichende Puls,
Gang und das ganze Gebärdenſpiel weiſen unzweifelhaft auf ein inneres
Bewegungsleben, deſſen qualitative Unterſchiede zu Verhältniſſen der Lang-
ſamkeit und Schnelligkeit werden. So entſchieden aber dieſe Erſcheinungen
auch ſprechen, ſo führen ſie uns doch nur zu demſelben Geheimniß, vor
dem wir ſchon im §. 752 ſtillſtehen mußten: zu der Annahme eines Schwing-
ungslebens der Nerven, deſſen Begriff wir auf den Geiſt überzutragen ge-
nöthigt ſind, ohne das Wie finden zu können. Wir können nicht anders,
als bildlich, ſagen: das ſtark bewegte Gemüth ſchwingt ſchneller als das
ſanft bewegte u. ſ. w. Die Arten der Uebergänge von einem Gefühls-
moment zum andern, wie ſie ſich abſtracter in staccato und legato, inniger
in den verſchiedenſten Arten des Ueberleitens und Vermittelns ausdrücken,
und die Pauſen ſind es, die der Schlußſatz des §. ebenfalls als Ausfluß
innerer Geſetze des Gemüthslebens aufführt. Das Empfinden hat Augen-
blicke punctueller Affection, die ſich auch außerhalb der Muſik in der Selbſt-
beobachtung unterſcheiden laſſen, es ſind Momente der Unruhe, wo das
Gefühl nicht in den tenor einer Strömung münden kann, oder des ſtoß-
weiſe auftretenden Kraftgefühls; ein andermal, und dieß iſt ſeine naturge-
mäßere Bewegung, wogt es als ungetheilte Maſſe in der Continuität des
ſtarken oder wilden Erguſſes, der nicht duldet, daß die Momente ſich ab-
ſondern, weil er im vorhergehenden das folgende, im folgenden das vor-
hergehende innig haben und bewahren will. Die Pauſen ſind eine Zeit
der Stille, worin das Gefühl zu ſchweigen ſcheint, während in Wahrheit
das vorhergehende ausklingt und das werdende ſich vorbereitet.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 805. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/43>, abgerufen am 21.11.2024.
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