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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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begründet, Inhalt und Form auseinanderzureißen. Die Phantasie des
Gefühls oder das Gefühl als Kunsttalent kann sich von dem Gefühl über-
haupt nicht so unterscheiden, daß in diesem das innere Vorbild, dessen
Abbild jenes in der Gestaltung der Töne niederlegt, nicht als Keim ange-
legt wäre, sonst käme ja durch die Formenwelt des Tones zu dem, was
sie ausdrücken soll, etwas ganz Aeußerliches und Fremdes hinzu. Das
Wahre kann vielmehr nur dieß sein, daß der Formkeim, der im Gefühl an
sich liegt, bei rein und tief fühlenden, aber unmusikalischen Naturen, gleich-
sam an der Stelle, wo er sich zum bestimmtern innern Bilde und weiter
zum äußern Organ entwickeln sollte, unterbunden ist. Diese geheimnißvolle
physiologisch-psychologische Naturschranke, die das Zusammengehörige trennt,
ist in der Musik ungleich stärker, als in allen andern Kunstgebieten, und
es wird dieß begreiflich werden, wenn wir das Gefühl mit der Natur des
musikalischen Ausdrucksmittels enger zusammenhalten, aber im Wesentlichen
haben wir doch in den andern Sphären dieselbe Erscheinung: der wahre
Historiker z. B. bringt sich vom großen Geschichtsmomente nicht nur den
reinen Inhalt zum lebendigen Bewußtsein, sondern auch von seiner Ge-
staltung
, den Charakteren, Culturformen u. s. w. hat er eine reiche An-
schauung, aber er vermag diese nicht bis zur vollen, reinen, idealen Form
zu entwickeln, wie der historische Maler, dem der innerlich thätige Nerv
in vollkommener Schwingung zu Gebote steht und heraus bis in die
Fingerspitzen geht. Was aber das ästhetische Talent betrifft, das ohne Ge-
haltstiefe mit Leichtigkeit bildet, so erklärt sich dieß aus einer innern
Fähigkeit, sich auch in den von Andern vorgefühlten Gehalt hineinzuversetzen,
keineswegs ist es ein abstractes Formgeschick ohne alle Beziehung zum
Inhalt. In gewissem Sinn gilt es allerdings auch vom wahren Genius,
daß man bei ihm jene substantielle Innigkeit des Gefühls, wie es ohne
Uebergang in den musikalischen Ausdruck den gemüthvollen Menschen erfüllt,
nicht suchen darf. Doch auch dieß ist zunächst nur dasselbe, wie in aller
Kunst: wir haben als allgemeine Vorbedingung des idealen Schaffens ächtes
Pathos verlangt (§. 392), aber der Niederschlag der innern Wärme in
die Form, den reinen Schein setzt immer eine Abkühlung voraus und
vollendet sie, nimmt der Begeisterung mit ihrem pathologischen Charakter
ihren ursprünglichen directen Ernst, ihre Eigentlichkeit; der Genius muß
im Pathos sein und doch frei über demselben schweben. In der Musik
wird dieß nun ganz besonders wahrnehmbar sein, weil sie eben die Kunst
des Gefühls, also des Innigsten ist: es schlüpft auf dem Puncte, wo es
in dem Menschen, welcher ihm nicht die musikalische Gestalt gibt, sich nach
anderweitigen Aeußerungsformen gewaltsam hindrängt, in unzulängliche,
aber tief erregte Seufzer und Worte sich zusammenpreßt, im Affect über
die Ufer schlägt, als reinere Wärme in Gesinnung und That sich fortleitet

begründet, Inhalt und Form auseinanderzureißen. Die Phantaſie des
Gefühls oder das Gefühl als Kunſttalent kann ſich von dem Gefühl über-
haupt nicht ſo unterſcheiden, daß in dieſem das innere Vorbild, deſſen
Abbild jenes in der Geſtaltung der Töne niederlegt, nicht als Keim ange-
legt wäre, ſonſt käme ja durch die Formenwelt des Tones zu dem, was
ſie ausdrücken ſoll, etwas ganz Aeußerliches und Fremdes hinzu. Das
Wahre kann vielmehr nur dieß ſein, daß der Formkeim, der im Gefühl an
ſich liegt, bei rein und tief fühlenden, aber unmuſikaliſchen Naturen, gleich-
ſam an der Stelle, wo er ſich zum beſtimmtern innern Bilde und weiter
zum äußern Organ entwickeln ſollte, unterbunden iſt. Dieſe geheimnißvolle
phyſiologiſch-pſychologiſche Naturſchranke, die das Zuſammengehörige trennt,
iſt in der Muſik ungleich ſtärker, als in allen andern Kunſtgebieten, und
es wird dieß begreiflich werden, wenn wir das Gefühl mit der Natur des
muſikaliſchen Ausdrucksmittels enger zuſammenhalten, aber im Weſentlichen
haben wir doch in den andern Sphären dieſelbe Erſcheinung: der wahre
Hiſtoriker z. B. bringt ſich vom großen Geſchichtsmomente nicht nur den
reinen Inhalt zum lebendigen Bewußtſein, ſondern auch von ſeiner Ge-
ſtaltung
, den Charakteren, Culturformen u. ſ. w. hat er eine reiche An-
ſchauung, aber er vermag dieſe nicht bis zur vollen, reinen, idealen Form
zu entwickeln, wie der hiſtoriſche Maler, dem der innerlich thätige Nerv
in vollkommener Schwingung zu Gebote ſteht und heraus bis in die
Fingerſpitzen geht. Was aber das äſthetiſche Talent betrifft, das ohne Ge-
haltstiefe mit Leichtigkeit bildet, ſo erklärt ſich dieß aus einer innern
Fähigkeit, ſich auch in den von Andern vorgefühlten Gehalt hineinzuverſetzen,
keineswegs iſt es ein abſtractes Formgeſchick ohne alle Beziehung zum
Inhalt. In gewiſſem Sinn gilt es allerdings auch vom wahren Genius,
daß man bei ihm jene ſubſtantielle Innigkeit des Gefühls, wie es ohne
Uebergang in den muſikaliſchen Ausdruck den gemüthvollen Menſchen erfüllt,
nicht ſuchen darf. Doch auch dieß iſt zunächſt nur daſſelbe, wie in aller
Kunſt: wir haben als allgemeine Vorbedingung des idealen Schaffens ächtes
Pathos verlangt (§. 392), aber der Niederſchlag der innern Wärme in
die Form, den reinen Schein ſetzt immer eine Abkühlung voraus und
vollendet ſie, nimmt der Begeiſterung mit ihrem pathologiſchen Charakter
ihren urſprünglichen directen Ernſt, ihre Eigentlichkeit; der Genius muß
im Pathos ſein und doch frei über demſelben ſchweben. In der Muſik
wird dieß nun ganz beſonders wahrnehmbar ſein, weil ſie eben die Kunſt
des Gefühls, alſo des Innigſten iſt: es ſchlüpft auf dem Puncte, wo es
in dem Menſchen, welcher ihm nicht die muſikaliſche Geſtalt gibt, ſich nach
anderweitigen Aeußerungsformen gewaltſam hindrängt, in unzulängliche,
aber tief erregte Seufzer und Worte ſich zuſammenpreßt, im Affect über
die Ufer ſchlägt, als reinere Wärme in Geſinnung und That ſich fortleitet

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[810/0048] begründet, Inhalt und Form auseinanderzureißen. Die Phantaſie des Gefühls oder das Gefühl als Kunſttalent kann ſich von dem Gefühl über- haupt nicht ſo unterſcheiden, daß in dieſem das innere Vorbild, deſſen Abbild jenes in der Geſtaltung der Töne niederlegt, nicht als Keim ange- legt wäre, ſonſt käme ja durch die Formenwelt des Tones zu dem, was ſie ausdrücken ſoll, etwas ganz Aeußerliches und Fremdes hinzu. Das Wahre kann vielmehr nur dieß ſein, daß der Formkeim, der im Gefühl an ſich liegt, bei rein und tief fühlenden, aber unmuſikaliſchen Naturen, gleich- ſam an der Stelle, wo er ſich zum beſtimmtern innern Bilde und weiter zum äußern Organ entwickeln ſollte, unterbunden iſt. Dieſe geheimnißvolle phyſiologiſch-pſychologiſche Naturſchranke, die das Zuſammengehörige trennt, iſt in der Muſik ungleich ſtärker, als in allen andern Kunſtgebieten, und es wird dieß begreiflich werden, wenn wir das Gefühl mit der Natur des muſikaliſchen Ausdrucksmittels enger zuſammenhalten, aber im Weſentlichen haben wir doch in den andern Sphären dieſelbe Erſcheinung: der wahre Hiſtoriker z. B. bringt ſich vom großen Geſchichtsmomente nicht nur den reinen Inhalt zum lebendigen Bewußtſein, ſondern auch von ſeiner Ge- ſtaltung, den Charakteren, Culturformen u. ſ. w. hat er eine reiche An- ſchauung, aber er vermag dieſe nicht bis zur vollen, reinen, idealen Form zu entwickeln, wie der hiſtoriſche Maler, dem der innerlich thätige Nerv in vollkommener Schwingung zu Gebote ſteht und heraus bis in die Fingerſpitzen geht. Was aber das äſthetiſche Talent betrifft, das ohne Ge- haltstiefe mit Leichtigkeit bildet, ſo erklärt ſich dieß aus einer innern Fähigkeit, ſich auch in den von Andern vorgefühlten Gehalt hineinzuverſetzen, keineswegs iſt es ein abſtractes Formgeſchick ohne alle Beziehung zum Inhalt. In gewiſſem Sinn gilt es allerdings auch vom wahren Genius, daß man bei ihm jene ſubſtantielle Innigkeit des Gefühls, wie es ohne Uebergang in den muſikaliſchen Ausdruck den gemüthvollen Menſchen erfüllt, nicht ſuchen darf. Doch auch dieß iſt zunächſt nur daſſelbe, wie in aller Kunſt: wir haben als allgemeine Vorbedingung des idealen Schaffens ächtes Pathos verlangt (§. 392), aber der Niederſchlag der innern Wärme in die Form, den reinen Schein ſetzt immer eine Abkühlung voraus und vollendet ſie, nimmt der Begeiſterung mit ihrem pathologiſchen Charakter ihren urſprünglichen directen Ernſt, ihre Eigentlichkeit; der Genius muß im Pathos ſein und doch frei über demſelben ſchweben. In der Muſik wird dieß nun ganz beſonders wahrnehmbar ſein, weil ſie eben die Kunſt des Gefühls, alſo des Innigſten iſt: es ſchlüpft auf dem Puncte, wo es in dem Menſchen, welcher ihm nicht die muſikaliſche Geſtalt gibt, ſich nach anderweitigen Aeußerungsformen gewaltſam hindrängt, in unzulängliche, aber tief erregte Seufzer und Worte ſich zuſammenpreßt, im Affect über die Ufer ſchlägt, als reinere Wärme in Geſinnung und That ſich fortleitet

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 810. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/48>, abgerufen am 23.11.2024.