zählt und in gleichen Zahlenreihen zusammengestellt; der epische (und gno- mische) Vers des Sanskrit, der Slokas, zeigt allerdings von dieser ersten kindlichen Stufe (auf welche die deutsche Poesie nach der Auflösung des rhythmischen Gesetzes, das in der Poesie des Mittelalters herrschte, einige Zeit lang zurücksank) einen Fortschritt: er besteht aus sechszehn Moren mit einer Cäsur in der Mitte; in jeder der beiden Hälften, in welche er hie- durch zerfällt, sind die vier ersten Sylben in der Quantität völlig frei, also rein gezählt, die vier folgenden aber metrisch gebunden, indem die erste Hälfte mit einem Antispast, die zweite mit einem Doppeljambus schließt, nur daß dort die Schlußsylbe auch lang, hier auch kurz sein kann. Je zwei solche sechszehnsylbige Verse reihen sich als eine Art von Distichon aneinander. Es hat sich bei den Indiern im Verlauf eine große Zahl anderweitiger Maaße, aber keines mit durchgeführter metrischer Bindung, entwickelt. -- Eigenthümlich ist die Bindung von Wortreihen durch die bloße Einheit des Gedankens in der hebräischen Poesie. Es besteht zwar eine unbestimmte Grundlage von Sylbenmessung: die offene Sylbe hat in der Regel den langen, die geschlossene an sich den kurzen Vocal, aber der Wortton alterirt dieß Verhältniß, ohne doch einem rhythmischen Schema zu folgen. Da überdieß auch die bloße Sylbenzählung fehlt, so bleibt nur der Rhythmus der Gedanken-Einheit, der sogenannte parallelismus mem- brorum, der zwei Sätze im antithetischen, synonymen oder gar identischen Sinne zusammenbindet. Allerdings bewirkt dieß jedoch einen gewissen An- klang von Rhythmus auch in der Form: die Sätze klingen wie Hemistichen, der Sylbenzahl sind mit der Wiederkehr des Inhalts ungefähre Grenzen gesetzt und als Ausdruck einer Neigung zu musikalischem Ersatz tritt gerne die Assonanz ein. Zu der Ausbildung dieser Seite zeigte der Orient eine aus der Stimmung seiner Phantasie begreifliche Neigung; der Reim war in der arabischen Poesie vor der muhamedanischen Zeit und die neupersische hat ihn (neben einer der deutschen Rhythmik verwandten Herrschaft des Worttons) aufgenommen.
Wir verweilen bei diesen unentschiedenen Formen nicht weiter, denn uns beschäftigt vor Allem die Frage, wie der große Gegensatz zweier aus- gebildeter Stylrichtungen, der als rother Faden uns durch die ganze Kunst- lehre begleitet, auf dem rhythmischen Gebiete zu Tage tritt, und wirklich erscheint er auf demselben in besonders entschiedener Gestalt: hier die ruhige, wohlgemessene, rein gegossene Form der unmittelbaren, plastischen Schönheit der griechischen Muse, dort die unruhige, den gebrochneren Körper geistig durchleuchtende, durch den Ausdruck des Ganzen mittelbar wirkende, malerische, charakteristische Schönheit der germanischen. Die griechische Rhythmik kann als das Vollkommnere in diesem Gegensatz, als das Classische im Sinne des Musterhaften angesehen werden, die deutsche ist genöthigt, in der Aus-
zählt und in gleichen Zahlenreihen zuſammengeſtellt; der epiſche (und gno- miſche) Vers des Sanskrit, der Slokas, zeigt allerdings von dieſer erſten kindlichen Stufe (auf welche die deutſche Poeſie nach der Auflöſung des rhythmiſchen Geſetzes, das in der Poeſie des Mittelalters herrſchte, einige Zeit lang zurückſank) einen Fortſchritt: er beſteht aus ſechszehn Moren mit einer Cäſur in der Mitte; in jeder der beiden Hälften, in welche er hie- durch zerfällt, ſind die vier erſten Sylben in der Quantität völlig frei, alſo rein gezählt, die vier folgenden aber metriſch gebunden, indem die erſte Hälfte mit einem Antiſpaſt, die zweite mit einem Doppeljambus ſchließt, nur daß dort die Schlußſylbe auch lang, hier auch kurz ſein kann. Je zwei ſolche ſechszehnſylbige Verſe reihen ſich als eine Art von Diſtichon aneinander. Es hat ſich bei den Indiern im Verlauf eine große Zahl anderweitiger Maaße, aber keines mit durchgeführter metriſcher Bindung, entwickelt. — Eigenthümlich iſt die Bindung von Wortreihen durch die bloße Einheit des Gedankens in der hebräiſchen Poeſie. Es beſteht zwar eine unbeſtimmte Grundlage von Sylbenmeſſung: die offene Sylbe hat in der Regel den langen, die geſchloſſene an ſich den kurzen Vocal, aber der Wortton alterirt dieß Verhältniß, ohne doch einem rhythmiſchen Schema zu folgen. Da überdieß auch die bloße Sylbenzählung fehlt, ſo bleibt nur der Rhythmus der Gedanken-Einheit, der ſogenannte parallelismus mem- brorum, der zwei Sätze im antithetiſchen, ſynonymen oder gar identiſchen Sinne zuſammenbindet. Allerdings bewirkt dieß jedoch einen gewiſſen An- klang von Rhythmus auch in der Form: die Sätze klingen wie Hemiſtichen, der Sylbenzahl ſind mit der Wiederkehr des Inhalts ungefähre Grenzen geſetzt und als Ausdruck einer Neigung zu muſikaliſchem Erſatz tritt gerne die Aſſonanz ein. Zu der Ausbildung dieſer Seite zeigte der Orient eine aus der Stimmung ſeiner Phantaſie begreifliche Neigung; der Reim war in der arabiſchen Poeſie vor der muhamedaniſchen Zeit und die neuperſiſche hat ihn (neben einer der deutſchen Rhythmik verwandten Herrſchaft des Worttons) aufgenommen.
Wir verweilen bei dieſen unentſchiedenen Formen nicht weiter, denn uns beſchäftigt vor Allem die Frage, wie der große Gegenſatz zweier aus- gebildeter Stylrichtungen, der als rother Faden uns durch die ganze Kunſt- lehre begleitet, auf dem rhythmiſchen Gebiete zu Tage tritt, und wirklich erſcheint er auf demſelben in beſonders entſchiedener Geſtalt: hier die ruhige, wohlgemeſſene, rein gegoſſene Form der unmittelbaren, plaſtiſchen Schönheit der griechiſchen Muſe, dort die unruhige, den gebrochneren Körper geiſtig durchleuchtende, durch den Ausdruck des Ganzen mittelbar wirkende, maleriſche, charakteriſtiſche Schönheit der germaniſchen. Die griechiſche Rhythmik kann als das Vollkommnere in dieſem Gegenſatz, als das Claſſiſche im Sinne des Muſterhaften angeſehen werden, die deutſche iſt genöthigt, in der Aus-
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[1247/0111]
zählt und in gleichen Zahlenreihen zuſammengeſtellt; der epiſche (und gno-
miſche) Vers des Sanskrit, der Slokas, zeigt allerdings von dieſer erſten
kindlichen Stufe (auf welche die deutſche Poeſie nach der Auflöſung des
rhythmiſchen Geſetzes, das in der Poeſie des Mittelalters herrſchte, einige
Zeit lang zurückſank) einen Fortſchritt: er beſteht aus ſechszehn Moren mit
einer Cäſur in der Mitte; in jeder der beiden Hälften, in welche er hie-
durch zerfällt, ſind die vier erſten Sylben in der Quantität völlig frei,
alſo rein gezählt, die vier folgenden aber metriſch gebunden, indem die
erſte Hälfte mit einem Antiſpaſt, die zweite mit einem Doppeljambus
ſchließt, nur daß dort die Schlußſylbe auch lang, hier auch kurz ſein kann.
Je zwei ſolche ſechszehnſylbige Verſe reihen ſich als eine Art von Diſtichon
aneinander. Es hat ſich bei den Indiern im Verlauf eine große Zahl
anderweitiger Maaße, aber keines mit durchgeführter metriſcher Bindung,
entwickelt. — Eigenthümlich iſt die Bindung von Wortreihen durch die
bloße Einheit des Gedankens in der hebräiſchen Poeſie. Es beſteht zwar
eine unbeſtimmte Grundlage von Sylbenmeſſung: die offene Sylbe hat in
der Regel den langen, die geſchloſſene an ſich den kurzen Vocal, aber der
Wortton alterirt dieß Verhältniß, ohne doch einem rhythmiſchen Schema
zu folgen. Da überdieß auch die bloße Sylbenzählung fehlt, ſo bleibt nur
der Rhythmus der Gedanken-Einheit, der ſogenannte parallelismus mem-
brorum, der zwei Sätze im antithetiſchen, ſynonymen oder gar identiſchen
Sinne zuſammenbindet. Allerdings bewirkt dieß jedoch einen gewiſſen An-
klang von Rhythmus auch in der Form: die Sätze klingen wie Hemiſtichen,
der Sylbenzahl ſind mit der Wiederkehr des Inhalts ungefähre Grenzen
geſetzt und als Ausdruck einer Neigung zu muſikaliſchem Erſatz tritt gerne
die Aſſonanz ein. Zu der Ausbildung dieſer Seite zeigte der Orient eine
aus der Stimmung ſeiner Phantaſie begreifliche Neigung; der Reim war
in der arabiſchen Poeſie vor der muhamedaniſchen Zeit und die neuperſiſche
hat ihn (neben einer der deutſchen Rhythmik verwandten Herrſchaft des
Worttons) aufgenommen.
Wir verweilen bei dieſen unentſchiedenen Formen nicht weiter, denn
uns beſchäftigt vor Allem die Frage, wie der große Gegenſatz zweier aus-
gebildeter Stylrichtungen, der als rother Faden uns durch die ganze Kunſt-
lehre begleitet, auf dem rhythmiſchen Gebiete zu Tage tritt, und wirklich
erſcheint er auf demſelben in beſonders entſchiedener Geſtalt: hier die ruhige,
wohlgemeſſene, rein gegoſſene Form der unmittelbaren, plaſtiſchen Schönheit
der griechiſchen Muſe, dort die unruhige, den gebrochneren Körper geiſtig
durchleuchtende, durch den Ausdruck des Ganzen mittelbar wirkende, maleriſche,
charakteriſtiſche Schönheit der germaniſchen. Die griechiſche Rhythmik kann
als das Vollkommnere in dieſem Gegenſatz, als das Claſſiſche im Sinne
des Muſterhaften angeſehen werden, die deutſche iſt genöthigt, in der Aus-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/111>, abgerufen am 18.02.2025.
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