sie so scharf und entschieden in keiner andern Kunst auftritt. Sie ist daher auch längst stehend und die Aesthetik hat hier nicht mehr das schwierige Geschäft der Entwirrung von Unterscheidungen, die im gewöhnlichen Be- wußtsein dunkel nebeneinander herlaufen. Die Stoffbeziehung der Phantasie tritt nun also nothwendig zurück. Von einer besondern Richtung auf das Landschaftliche, Thierische kann ohnedieß nicht die Rede sein: wir haben gesehen, daß es mit dem Satze, der Inhalt des Schönen sei im höchsten Sinne die Persönlichkeit, in der Poesie voller Ernst wird (§. 842). Der Mensch ist die wahre Aufgabe aller Kunst, und er ist es in der Poesie ausdrücklich; er wird in jeder ihrer Hauptformen nur von einem andern Standpunct aufgefaßt und so verändert sich freilich, da die veränderte Auf- fassungsseite eine veränderte Beziehung zum Stoffgebiete mit sich bringt, jedesmal auch der Ausschnitt aus dem letzteren, wie denn z. B. das Epos landschaftliches und thierisches Leben in ganz anderem Umfang aufnimmt, als das Drama. Es wird sich zeigen, daß dieser Unterschied der Umfassung des Stoffes namentlich davon abhängt, ob die reinmenschliche oder die geschichtliche Richtung herrscht, und diese Arten der Richtung der Phantasie haben wir zwar in §. 403 zu denjenigen gestellt, welche sich auf den Stoff beziehen, sie fallen aber, wo die Auffassung als solche entscheidend herrscht, natürlich an diese herüber. Dieß wird sich im Verlaufe näher erklären. Uebrigens mag die Dichtkunst den Weltstoff in kleinem oder großem Umfang aufnehmen, bezogen ist der Mensch immer auf die Natur und Alles rings um ihn, daher ist der Inhalt der Poesie immer die ganze Welt; sie sieht vom Menschen aus die Welt. -- Der veränderte Standpunct der Beleuch- tung bringt nun aber allerdings zugleich jedesmal eine andere Erstreckungs- seite der Zeit mit sich: wir werden sehen, daß das Epos den Gegenstand unter dem Standpuncte der Vergangenheit betrachtet, in der lyrischen Dichtung Alles zur Gegenwart im Gefühle wird, im Drama die Gegen- wart, indem sie sich als Handlung entwickelt, sich gegen die Zukunft spannt. Es hat dieß zwar seine logischen Schwierigkeiten und darf nimmermehr zum Eintheilungsgrund erhoben werden wie von Just. Fr. Richter (Vorsch. d. Aesth. §. 75), aber es steht im tiefsten Zusammenhange mit der Weise, wie das Ich des Dichters mit seinem Gegenstande sich durchdringt, und dieses Moment ist jetzt vor Allem bestimmter hervorzuheben.
§. 863.
Der Unterschied der Arten der Phantasie, der sich auf die Weise der Auf- fassung gründet, hat seinen tieferen Grund in dem Gesetze der Diremtion des Objectiven und Subjectiven und ihrer Zusammenfassung im Subjectiv- Objectiven (vergl. §. 537) und dieses tritt jetzt in seiner ganzen Bestimmtheit
ſie ſo ſcharf und entſchieden in keiner andern Kunſt auftritt. Sie iſt daher auch längſt ſtehend und die Aeſthetik hat hier nicht mehr das ſchwierige Geſchäft der Entwirrung von Unterſcheidungen, die im gewöhnlichen Be- wußtſein dunkel nebeneinander herlaufen. Die Stoffbeziehung der Phantaſie tritt nun alſo nothwendig zurück. Von einer beſondern Richtung auf das Landſchaftliche, Thieriſche kann ohnedieß nicht die Rede ſein: wir haben geſehen, daß es mit dem Satze, der Inhalt des Schönen ſei im höchſten Sinne die Perſönlichkeit, in der Poeſie voller Ernſt wird (§. 842). Der Menſch iſt die wahre Aufgabe aller Kunſt, und er iſt es in der Poeſie ausdrücklich; er wird in jeder ihrer Hauptformen nur von einem andern Standpunct aufgefaßt und ſo verändert ſich freilich, da die veränderte Auf- faſſungsſeite eine veränderte Beziehung zum Stoffgebiete mit ſich bringt, jedesmal auch der Ausſchnitt aus dem letzteren, wie denn z. B. das Epos landſchaftliches und thieriſches Leben in ganz anderem Umfang aufnimmt, als das Drama. Es wird ſich zeigen, daß dieſer Unterſchied der Umfaſſung des Stoffes namentlich davon abhängt, ob die reinmenſchliche oder die geſchichtliche Richtung herrſcht, und dieſe Arten der Richtung der Phantaſie haben wir zwar in §. 403 zu denjenigen geſtellt, welche ſich auf den Stoff beziehen, ſie fallen aber, wo die Auffaſſung als ſolche entſcheidend herrſcht, natürlich an dieſe herüber. Dieß wird ſich im Verlaufe näher erklären. Uebrigens mag die Dichtkunſt den Weltſtoff in kleinem oder großem Umfang aufnehmen, bezogen iſt der Menſch immer auf die Natur und Alles rings um ihn, daher iſt der Inhalt der Poeſie immer die ganze Welt; ſie ſieht vom Menſchen aus die Welt. — Der veränderte Standpunct der Beleuch- tung bringt nun aber allerdings zugleich jedesmal eine andere Erſtreckungs- ſeite der Zeit mit ſich: wir werden ſehen, daß das Epos den Gegenſtand unter dem Standpuncte der Vergangenheit betrachtet, in der lyriſchen Dichtung Alles zur Gegenwart im Gefühle wird, im Drama die Gegen- wart, indem ſie ſich als Handlung entwickelt, ſich gegen die Zukunft ſpannt. Es hat dieß zwar ſeine logiſchen Schwierigkeiten und darf nimmermehr zum Eintheilungsgrund erhoben werden wie von Juſt. Fr. Richter (Vorſch. d. Aeſth. §. 75), aber es ſteht im tiefſten Zuſammenhange mit der Weiſe, wie das Ich des Dichters mit ſeinem Gegenſtande ſich durchdringt, und dieſes Moment iſt jetzt vor Allem beſtimmter hervorzuheben.
§. 863.
Der Unterſchied der Arten der Phantaſie, der ſich auf die Weiſe der Auf- faſſung gründet, hat ſeinen tieferen Grund in dem Geſetze der Diremtion des Objectiven und Subjectiven und ihrer Zuſammenfaſſung im Subjectiv- Objectiven (vergl. §. 537) und dieſes tritt jetzt in ſeiner ganzen Beſtimmtheit
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ſie ſo ſcharf und entſchieden in keiner andern Kunſt auftritt. Sie iſt daher
auch längſt ſtehend und die Aeſthetik hat hier nicht mehr das ſchwierige
Geſchäft der Entwirrung von Unterſcheidungen, die im gewöhnlichen Be-
wußtſein dunkel nebeneinander herlaufen. Die Stoffbeziehung der Phantaſie
tritt nun alſo nothwendig zurück. Von einer beſondern Richtung auf das
Landſchaftliche, Thieriſche kann ohnedieß nicht die Rede ſein: wir haben
geſehen, daß es mit dem Satze, der Inhalt des Schönen ſei im höchſten
Sinne die Perſönlichkeit, in der Poeſie voller Ernſt wird (§. 842). Der
Menſch iſt die wahre Aufgabe aller Kunſt, und er iſt es in der Poeſie
ausdrücklich; er wird in jeder ihrer Hauptformen nur von einem andern
Standpunct aufgefaßt und ſo verändert ſich freilich, da die veränderte Auf-
faſſungsſeite eine veränderte Beziehung zum Stoffgebiete mit ſich bringt,
jedesmal auch der Ausſchnitt aus dem letzteren, wie denn z. B. das Epos
landſchaftliches und thieriſches Leben in ganz anderem Umfang aufnimmt,
als das Drama. Es wird ſich zeigen, daß dieſer Unterſchied der Umfaſſung
des Stoffes namentlich davon abhängt, ob die reinmenſchliche oder die
geſchichtliche Richtung herrſcht, und dieſe Arten der Richtung der Phantaſie
haben wir zwar in §. 403 zu denjenigen geſtellt, welche ſich auf den Stoff
beziehen, ſie fallen aber, wo die Auffaſſung als ſolche entſcheidend herrſcht,
natürlich an dieſe herüber. Dieß wird ſich im Verlaufe näher erklären.
Uebrigens mag die Dichtkunſt den Weltſtoff in kleinem oder großem Umfang
aufnehmen, bezogen iſt der Menſch immer auf die Natur und Alles rings
um ihn, daher iſt der Inhalt der Poeſie immer die ganze Welt; ſie ſieht
vom Menſchen aus die Welt. — Der veränderte Standpunct der Beleuch-
tung bringt nun aber allerdings zugleich jedesmal eine andere Erſtreckungs-
ſeite der Zeit mit ſich: wir werden ſehen, daß das Epos den Gegenſtand
unter dem Standpuncte der Vergangenheit betrachtet, in der lyriſchen
Dichtung Alles zur Gegenwart im Gefühle wird, im Drama die Gegen-
wart, indem ſie ſich als Handlung entwickelt, ſich gegen die Zukunft ſpannt.
Es hat dieß zwar ſeine logiſchen Schwierigkeiten und darf nimmermehr zum
Eintheilungsgrund erhoben werden wie von Juſt. Fr. Richter (Vorſch. d.
Aeſth. §. 75), aber es ſteht im tiefſten Zuſammenhange mit der Weiſe, wie
das Ich des Dichters mit ſeinem Gegenſtande ſich durchdringt, und dieſes
Moment iſt jetzt vor Allem beſtimmter hervorzuheben.
§. 863.
Der Unterſchied der Arten der Phantaſie, der ſich auf die Weiſe der Auf-
faſſung gründet, hat ſeinen tieferen Grund in dem Geſetze der Diremtion des
Objectiven und Subjectiven und ihrer Zuſammenfaſſung im Subjectiv-
Objectiven (vergl. §. 537) und dieſes tritt jetzt in ſeiner ganzen Beſtimmtheit
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/124>, abgerufen am 18.02.2025.
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