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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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ſubjectiver Ueberbildung, ſeine Lippen umſpiele. Dieß widerſpricht im Ge-
ringſten nicht dem hohen Schwunge, mit welchem ihn die Majeſtät ſeines
Weltbildes erfüllt. Hiezu haben wir nun §. 865 wieder aufzunehmen und
danach die Aufgabe des epiſchen Dichters als ſpezifiſche Art des Verfahrens
näher zu beſtimmen. Es iſt ihm aus der Totalität der Künſte, wie ſie in
der Poeſie geiſtig enthalten iſt, durchaus vorherrſchend das Moment zu-
gefallen, wodurch in dieſer die bildende Kunſt ſich wiederholt: er hat
darzuſtellen, zu ſchildern, zu bauen, zu meiſeln, zu zeichnen, zu malen, nur
daß er das unterſcheidende Grundgeſetz ſeiner Kunſt nicht verkennen darf,
das in §. 847 aufgeſtellt iſt. Klar, in ſcharfen Umriſſen, nicht mehr ver-
wachſen und verklebt mit ſeinem Innern, ſoll er die Geſtalt der Dinge vor
uns hinſtellen. Er muß vorzüglich auf das Auge organiſirt ſein; wem es
gleichgültig iſt, wie die Dinge ausſehen, wer ſich nicht um Körperformen,
Kleider, Geräthe, Arten der ſinnlichen Bewegung in allem Thun bekümmert,
der iſt zum epiſchen Dichter verloren. Auf die Vereinigung dieſes Ver-
fahrens der auf das Auge organiſirten Phantaſie mit jener Ruhe der
Objectivität, gründet ſich nun das Stylgeſetz dieſer Form der Dichtkunſt.
Göthe’s Natur iſt wahrhaft typiſch für dieſelbe. Er ließ immer „die Dinge
rein auf ſich wirken“ und gab ſie rein wieder, es lag ſo viel vom bilden-
den Künſtler in ihm, als eben recht iſt, um für das innere Auge zu leiſten,
was jener dem äußeren hinſtellt; ſein Gemüth ſcheute ſich vor ſchroffen
Thaten der Freiheit in der Geſchichte und ſtrebte mild und verſöhnt zum
allgemein Menſchlichen, die „ſtrenge, gerade Linie, nach welcher der tragiſche
Poet fortſchreitet, ſagte ſeiner freien Gemüthlichkeit nicht zu“, er „erſchrack
vor dem bloßen Unternehmen, eine Tragödie zu ſchreiben“; der feſte Zeichner
und der hoch in der Vogelperſpective der reinen Allgemeinheit der Idee
ſchwebende Betrachter verbinden ſich in ſeinen Werken ſo, daß ſie „ruhig
und tief, klar und doch unbegreiflich ſind wie die Natur“, daß die „ſchöne
Klarheit, Gleichheit des Gemüths, woraus Alles gefloſſen iſt“, bewundert
werden muß (vergl. a. a. O. B. 3, S. 361. 356. B. 2, S. 79). Es
verſteht ſich, daß durch die Aufgabe des Zeichnens und die Grundbedingung
eines ruhig geſtimmten Gemüths das Stimmungsvolle, wodurch in der
Poeſie auch die Muſik ſich wiederholt (§. 839, 2.), nicht ausgeſchloſſen ſein
kann, aber das geiſtig bewegte Weſen ſeiner Kunſt verführt den Dichter
leicht, zu viel zu ſtimmen, zu wenig zu bilden (vergl. W. v. Humboldt
a. a. O. S. 49); Göthe iſt auch hierin Muſter: der bewegteſte Stimmungs-
hauch zittert um ſeine Geſtalten, ohne je ihre Umriſſe zu lockern. Es gibt
wohl innerhalb des epiſchen Gebiets einen Unterſchied des Plaſtiſchen und
Muſikaliſchen, Bildenden und Stimmenden, aber die Grenze, worüber die
letztere Behandlungsweiſe nicht gehen darf, iſt deutlich genug; ein Klopſtock
z. B., dem es ganz an Auge und Sinn für Handlung gebricht, iſt ganz

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/140>, abgerufen am 18.02.2025.