ohne den Boden der Naivetät zu verlassen. Den Stoff entnimmt diese Dichtung aus der Heldensage und dem mit ihm vereinigten Göttermythus und entfaltet in ihm ein vollständiges, organisches Bild des nationalen Lebens in welthistori- schem Zusammenstoße. Die rhythmische Form entspricht rein der bewegungs- vollen Würde des Inhalts.
1. Wir können uns bei dem indischen Epos nur kurz aufhalten und müssen auf das verweisen, was in §. 343 ff. über den Charakter des Orients überhaupt, in §. 346, 1. über Indien insbesondere, dann in §. 426 ff. über die orientalische, und §. 431, 1. speziell über die indische Phantasie gesagt ist. Mahabharata und Ramayana enthalten Ansätze, die sich ganz homerisch fühlen, namentlich die eine der großen Episoden des letzteren, in seinen Hauptbestandtheilen ursprünglicheren Epos, Nalas und Damajanti. Allein wie die früher einfache Religion Indiens, so sind diese -- man weiß nicht, soll man sagen: Keime oder Trümmer eines gesunden heroischen, plastisch gezeichneten Bildes ächter männlicher Thatkraft, gedie- gener Sitte, gehaltener weiblicher Lieblichkeit und rührender Treue über- wuchert worden von der zwischen Mythologie und bloßer Symbolik wild schwankenden, alle Umrisse auflösenden Einbildungskraft, von der Doctrin, die unter Anderm eine ganze Theologie in einem Gespräch vor der Schlacht ausspinnt (in der Episode Bhagavadgita), von absurder Vergötterung des Thierischen (Affe Hanuman in Ramayana). Es ist eine epische Poesie, welche in Religionsphilosophie, namentlich Theogonie (Herabkunft der Ganga in Ramayana) zurücksinkt oder übergeht. Das Theogonische werden wir aber überhaupt gar nicht zur reinen Poesie ziehen, sondern in den Anhang vom Didaktischen verweisen, denn es ist nicht reine Versenkung einer allge- meinen Wahrheit in ein Bild des Lebens. Die theologische Verschwemmung des rein Menschlichen hat denn auch an die Stelle des heroischen Handelns das wahnsinnige Büßerwesen gesetzt, das mit seinen mehr als tausend- jährigen Peinigungen selbst den Götterhimmel zu sprengen droht. Daß die gelenklose Gaukelei der Phantasie im Umfang des Epos maaßlos ist wie in allen Formen und Zahlen des Inhalts, in der Composition kein Ver- hältniß zwischen Hauptkörper und Episode kennt, unorganisch die Theile in- einanderschachtelt, folgt nur von selbst aus ihrem innern Charakter.
2. Der vorh. §. hat das griechische Heldengedicht und den Roman noch nebeneinandergestellt, doch bereits den letzteren eine mangelhafte Form des Styls genannt, dem er angehört; wir fügen zunächst so viel hinzu: der Roman wird zwar nicht durch den Maaßstab des ursprünglichen Epos gerichtet, denn er stellt sich nicht unter denselben, wohl aber durch den Maaßstab einer Aufgabe, die offenbar von einer andern Dichtungs-Art vollkommener zu lösen ist, der ihn also zu einer zweifelhaften Gestalt heruntersetzt. Hiedurch
ohne den Boden der Naivetät zu verlaſſen. Den Stoff entnimmt dieſe Dichtung aus der Heldenſage und dem mit ihm vereinigten Göttermythus und entfaltet in ihm ein vollſtändiges, organiſches Bild des nationalen Lebens in welthiſtori- ſchem Zuſammenſtoße. Die rhythmiſche Form entſpricht rein der bewegungs- vollen Würde des Inhalts.
1. Wir können uns bei dem indiſchen Epos nur kurz aufhalten und müſſen auf das verweiſen, was in §. 343 ff. über den Charakter des Orients überhaupt, in §. 346, 1. über Indien insbeſondere, dann in §. 426 ff. über die orientaliſche, und §. 431, 1. ſpeziell über die indiſche Phantaſie geſagt iſt. Mahabharata und Ramayana enthalten Anſätze, die ſich ganz homeriſch fühlen, namentlich die eine der großen Epiſoden des letzteren, in ſeinen Hauptbeſtandtheilen urſprünglicheren Epos, Nalas und Damajanti. Allein wie die früher einfache Religion Indiens, ſo ſind dieſe — man weiß nicht, ſoll man ſagen: Keime oder Trümmer eines geſunden heroiſchen, plaſtiſch gezeichneten Bildes ächter männlicher Thatkraft, gedie- gener Sitte, gehaltener weiblicher Lieblichkeit und rührender Treue über- wuchert worden von der zwiſchen Mythologie und bloßer Symbolik wild ſchwankenden, alle Umriſſe auflöſenden Einbildungskraft, von der Doctrin, die unter Anderm eine ganze Theologie in einem Geſpräch vor der Schlacht ausſpinnt (in der Epiſode Bhagavadgita), von abſurder Vergötterung des Thieriſchen (Affe Hanuman in Ramayana). Es iſt eine epiſche Poeſie, welche in Religionsphiloſophie, namentlich Theogonie (Herabkunft der Ganga in Ramayana) zurückſinkt oder übergeht. Das Theogoniſche werden wir aber überhaupt gar nicht zur reinen Poeſie ziehen, ſondern in den Anhang vom Didaktiſchen verweiſen, denn es iſt nicht reine Verſenkung einer allge- meinen Wahrheit in ein Bild des Lebens. Die theologiſche Verſchwemmung des rein Menſchlichen hat denn auch an die Stelle des heroiſchen Handelns das wahnſinnige Büßerweſen geſetzt, das mit ſeinen mehr als tauſend- jährigen Peinigungen ſelbſt den Götterhimmel zu ſprengen droht. Daß die gelenkloſe Gaukelei der Phantaſie im Umfang des Epos maaßlos iſt wie in allen Formen und Zahlen des Inhalts, in der Compoſition kein Ver- hältniß zwiſchen Hauptkörper und Epiſode kennt, unorganiſch die Theile in- einanderſchachtelt, folgt nur von ſelbſt aus ihrem innern Charakter.
2. Der vorh. §. hat das griechiſche Heldengedicht und den Roman noch nebeneinandergeſtellt, doch bereits den letzteren eine mangelhafte Form des Styls genannt, dem er angehört; wir fügen zunächſt ſo viel hinzu: der Roman wird zwar nicht durch den Maaßſtab des urſprünglichen Epos gerichtet, denn er ſtellt ſich nicht unter denſelben, wohl aber durch den Maaßſtab einer Aufgabe, die offenbar von einer andern Dichtungs-Art vollkommener zu löſen iſt, der ihn alſo zu einer zweifelhaften Geſtalt herunterſetzt. Hiedurch
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[1286/0150]
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in ihm ein vollſtändiges, organiſches Bild des nationalen Lebens in welthiſtori-
ſchem Zuſammenſtoße. Die rhythmiſche Form entſpricht rein der bewegungs-
vollen Würde des Inhalts.
1. Wir können uns bei dem indiſchen Epos nur kurz aufhalten und
müſſen auf das verweiſen, was in §. 343 ff. über den Charakter des
Orients überhaupt, in §. 346, 1. über Indien insbeſondere, dann in
§. 426 ff. über die orientaliſche, und §. 431, 1. ſpeziell über die indiſche
Phantaſie geſagt iſt. Mahabharata und Ramayana enthalten Anſätze, die
ſich ganz homeriſch fühlen, namentlich die eine der großen Epiſoden des
letzteren, in ſeinen Hauptbeſtandtheilen urſprünglicheren Epos, Nalas und
Damajanti. Allein wie die früher einfache Religion Indiens, ſo ſind dieſe
— man weiß nicht, ſoll man ſagen: Keime oder Trümmer eines geſunden
heroiſchen, plaſtiſch gezeichneten Bildes ächter männlicher Thatkraft, gedie-
gener Sitte, gehaltener weiblicher Lieblichkeit und rührender Treue über-
wuchert worden von der zwiſchen Mythologie und bloßer Symbolik wild
ſchwankenden, alle Umriſſe auflöſenden Einbildungskraft, von der Doctrin,
die unter Anderm eine ganze Theologie in einem Geſpräch vor der Schlacht
ausſpinnt (in der Epiſode Bhagavadgita), von abſurder Vergötterung des
Thieriſchen (Affe Hanuman in Ramayana). Es iſt eine epiſche Poeſie,
welche in Religionsphiloſophie, namentlich Theogonie (Herabkunft der Ganga
in Ramayana) zurückſinkt oder übergeht. Das Theogoniſche werden wir
aber überhaupt gar nicht zur reinen Poeſie ziehen, ſondern in den Anhang
vom Didaktiſchen verweiſen, denn es iſt nicht reine Verſenkung einer allge-
meinen Wahrheit in ein Bild des Lebens. Die theologiſche Verſchwemmung
des rein Menſchlichen hat denn auch an die Stelle des heroiſchen Handelns
das wahnſinnige Büßerweſen geſetzt, das mit ſeinen mehr als tauſend-
jährigen Peinigungen ſelbſt den Götterhimmel zu ſprengen droht. Daß die
gelenkloſe Gaukelei der Phantaſie im Umfang des Epos maaßlos iſt wie
in allen Formen und Zahlen des Inhalts, in der Compoſition kein Ver-
hältniß zwiſchen Hauptkörper und Epiſode kennt, unorganiſch die Theile in-
einanderſchachtelt, folgt nur von ſelbſt aus ihrem innern Charakter.
2. Der vorh. §. hat das griechiſche Heldengedicht und den Roman
noch nebeneinandergeſtellt, doch bereits den letzteren eine mangelhafte Form
des Styls genannt, dem er angehört; wir fügen zunächſt ſo viel hinzu:
der Roman wird zwar nicht durch den Maaßſtab des urſprünglichen Epos
gerichtet, denn er ſtellt ſich nicht unter denſelben, wohl aber durch den Maaßſtab
einer Aufgabe, die offenbar von einer andern Dichtungs-Art vollkommener
zu löſen iſt, der ihn alſo zu einer zweifelhaften Geſtalt herunterſetzt. Hiedurch
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/150>, abgerufen am 18.02.2025.
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