freie Ruhe des epischen Dichters gründet sich, wie wir gesehen, namentlich auf die Vergangenheit seines Objects und wenn die Ferne eine idealisirende Kraft hat, so kommt sie vor Allem ihm zu statten: ein weiterer Ausdruck für den Satz, daß diese Form durch reine Idealität außer und über den andern stehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyrische und Dramatische; die objective und sinnliche Haltung schließt Momente des hervorbrechenden subjectiven Gefühls, sei es das des Dichters oder seiner Personen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe Rede dialogische Form an, so daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns aufzutreten scheinen. -- Hier lassen wir diesen Satz von dem Vorzuge, richtiger vor der generischen Natur der epischen Poesie stehen. Der Aus- druck des §.: "es scheint zunächst" wird im Fortgang zu den weiteren Formen seine Erledigung finden.
2. Die Arten der epischen Poesie.
§. 872.
In der gesammten Ausbildung der epischen Poesie treten nur zwei Formen auf, welche in dem Sinne rein und ächt sind, daß jede von ihnen als wirk- licher Typus eines der Style erscheint, deren großer Gegensatz die Geschichte aller Kunst beherrscht: das griechische Heldengedicht und der moderne Roman. Alles Andere stellt sich unter den Maaßstab des ersteren und fällt, trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter dasselbe; der Roman dagegen ist zwar eine sehr mangelhafte Form, aber bestimmter und selbständiger Ausdruck eines Styls.
Der Inhalt dieses §., der wohl nur auf den ersten, flüchtigen Blick paradox erscheint, ist durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.
§. 873.
Während das einzige ursprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der Orient hinterlassen hat, das indische, Ansätze von ächt epischer Schönheit in das Formlose auflöst, steht das griechische Epos so in einziger Vollendung da, daß es als historische Erscheinung doch ganz mit dem Be- griffe der Sache zusammenfällt; denn in einer Dichtungsart, welche ihrem Wesen nach ein plastisches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkom- menste da geleistet, wo nicht nur die Phantasie des Volksgeistes an sich plastisch ist, sondern auch das dichtende Bewußtsein sich zur Kunstpoesie erhoben hat,
freie Ruhe des epiſchen Dichters gründet ſich, wie wir geſehen, namentlich auf die Vergangenheit ſeines Objects und wenn die Ferne eine idealiſirende Kraft hat, ſo kommt ſie vor Allem ihm zu ſtatten: ein weiterer Ausdruck für den Satz, daß dieſe Form durch reine Idealität außer und über den andern ſtehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyriſche und Dramatiſche; die objective und ſinnliche Haltung ſchließt Momente des hervorbrechenden ſubjectiven Gefühls, ſei es das des Dichters oder ſeiner Perſonen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe Rede dialogiſche Form an, ſo daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns aufzutreten ſcheinen. — Hier laſſen wir dieſen Satz von dem Vorzuge, richtiger vor der generiſchen Natur der epiſchen Poeſie ſtehen. Der Aus- druck des §.: „es ſcheint zunächſt“ wird im Fortgang zu den weiteren Formen ſeine Erledigung finden.
2. Die Arten der epiſchen Poeſie.
§. 872.
In der geſammten Ausbildung der epiſchen Poeſie treten nur zwei Formen auf, welche in dem Sinne rein und ächt ſind, daß jede von ihnen als wirk- licher Typus eines der Style erſcheint, deren großer Gegenſatz die Geſchichte aller Kunſt beherrſcht: das griechiſche Heldengedicht und der moderne Roman. Alles Andere ſtellt ſich unter den Maaßſtab des erſteren und fällt, trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter daſſelbe; der Roman dagegen iſt zwar eine ſehr mangelhafte Form, aber beſtimmter und ſelbſtändiger Ausdruck eines Styls.
Der Inhalt dieſes §., der wohl nur auf den erſten, flüchtigen Blick paradox erſcheint, iſt durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.
§. 873.
Während das einzige urſprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der Orient hinterlaſſen hat, das indiſche, Anſätze von ächt epiſcher Schönheit in das Formloſe auflöst, ſteht das griechiſche Epos ſo in einziger Vollendung da, daß es als hiſtoriſche Erſcheinung doch ganz mit dem Be- griffe der Sache zuſammenfällt; denn in einer Dichtungsart, welche ihrem Weſen nach ein plaſtiſches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkom- menſte da geleiſtet, wo nicht nur die Phantaſie des Volksgeiſtes an ſich plaſtiſch iſt, ſondern auch das dichtende Bewußtſein ſich zur Kunſtpoeſie erhoben hat,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0149"n="1285"/>
freie Ruhe des epiſchen Dichters gründet ſich, wie wir geſehen, namentlich<lb/>
auf die Vergangenheit ſeines Objects und wenn die Ferne eine idealiſirende<lb/>
Kraft hat, ſo kommt ſie vor Allem ihm zu ſtatten: ein weiterer Ausdruck<lb/>
für den Satz, daß dieſe Form durch reine Idealität außer und über den<lb/>
andern ſtehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyriſche und<lb/>
Dramatiſche; die objective und ſinnliche Haltung ſchließt Momente des<lb/>
hervorbrechenden ſubjectiven Gefühls, ſei es das des Dichters oder ſeiner<lb/>
Perſonen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe<lb/>
Rede dialogiſche Form an, ſo daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns<lb/>
aufzutreten ſcheinen. — Hier laſſen wir dieſen Satz von dem Vorzuge,<lb/>
richtiger vor der generiſchen Natur der epiſchen Poeſie ſtehen. Der Aus-<lb/>
druck des §.: „es ſcheint zunächſt“ wird im Fortgang zu den weiteren Formen<lb/>ſeine Erledigung finden.</hi></p></div></div><lb/><divn="4"><head>2. Die Arten der epiſchen Poeſie.</head><lb/><divn="5"><head>§. 872.</head><lb/><p><hirendition="#fr">In der geſammten Ausbildung der epiſchen Poeſie treten nur zwei Formen<lb/>
auf, welche in dem Sinne rein und ächt ſind, daß jede von ihnen als wirk-<lb/>
licher Typus eines der <hirendition="#g">Style</hi> erſcheint, deren großer Gegenſatz die Geſchichte<lb/>
aller Kunſt beherrſcht: <hirendition="#g">das griechiſche Heldengedicht</hi> und <hirendition="#g">der moderne<lb/>
Roman</hi>. Alles Andere ſtellt ſich unter den Maaßſtab des erſteren und fällt,<lb/>
trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter daſſelbe; der<lb/>
Roman dagegen iſt zwar eine ſehr mangelhafte Form, aber beſtimmter und<lb/>ſelbſtändiger Ausdruck eines Styls.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Der Inhalt dieſes §., der wohl nur auf den erſten, flüchtigen Blick<lb/>
paradox erſcheint, iſt durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.</hi></p></div><lb/><divn="5"><head>§. 873.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Während das einzige urſprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der<noteplace="right">1.</note><lb/>
Orient hinterlaſſen hat, das <hirendition="#g">indiſche</hi>, Anſätze von ächt epiſcher Schönheit in<lb/>
das Formloſe auflöst, ſteht das <hirendition="#g">griechiſche Epos</hi>ſo in einziger Vollendung<noteplace="right">2.</note><lb/>
da, <hirendition="#g">daß es als hiſtoriſche Erſcheinung doch ganz mit dem Be-<lb/>
griffe der Sache zuſammenfällt</hi>; denn in einer Dichtungsart, welche<lb/>
ihrem Weſen nach ein plaſtiſches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkom-<lb/>
menſte da geleiſtet, wo nicht nur die Phantaſie des Volksgeiſtes an ſich plaſtiſch<lb/>
iſt, ſondern auch das dichtende Bewußtſein ſich zur Kunſtpoeſie erhoben hat,<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1285/0149]
freie Ruhe des epiſchen Dichters gründet ſich, wie wir geſehen, namentlich
auf die Vergangenheit ſeines Objects und wenn die Ferne eine idealiſirende
Kraft hat, ſo kommt ſie vor Allem ihm zu ſtatten: ein weiterer Ausdruck
für den Satz, daß dieſe Form durch reine Idealität außer und über den
andern ſtehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyriſche und
Dramatiſche; die objective und ſinnliche Haltung ſchließt Momente des
hervorbrechenden ſubjectiven Gefühls, ſei es das des Dichters oder ſeiner
Perſonen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe
Rede dialogiſche Form an, ſo daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns
aufzutreten ſcheinen. — Hier laſſen wir dieſen Satz von dem Vorzuge,
richtiger vor der generiſchen Natur der epiſchen Poeſie ſtehen. Der Aus-
druck des §.: „es ſcheint zunächſt“ wird im Fortgang zu den weiteren Formen
ſeine Erledigung finden.
2. Die Arten der epiſchen Poeſie.
§. 872.
In der geſammten Ausbildung der epiſchen Poeſie treten nur zwei Formen
auf, welche in dem Sinne rein und ächt ſind, daß jede von ihnen als wirk-
licher Typus eines der Style erſcheint, deren großer Gegenſatz die Geſchichte
aller Kunſt beherrſcht: das griechiſche Heldengedicht und der moderne
Roman. Alles Andere ſtellt ſich unter den Maaßſtab des erſteren und fällt,
trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter daſſelbe; der
Roman dagegen iſt zwar eine ſehr mangelhafte Form, aber beſtimmter und
ſelbſtändiger Ausdruck eines Styls.
Der Inhalt dieſes §., der wohl nur auf den erſten, flüchtigen Blick
paradox erſcheint, iſt durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.
§. 873.
Während das einzige urſprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der
Orient hinterlaſſen hat, das indiſche, Anſätze von ächt epiſcher Schönheit in
das Formloſe auflöst, ſteht das griechiſche Epos ſo in einziger Vollendung
da, daß es als hiſtoriſche Erſcheinung doch ganz mit dem Be-
griffe der Sache zuſammenfällt; denn in einer Dichtungsart, welche
ihrem Weſen nach ein plaſtiſches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkom-
menſte da geleiſtet, wo nicht nur die Phantaſie des Volksgeiſtes an ſich plaſtiſch
iſt, ſondern auch das dichtende Bewußtſein ſich zur Kunſtpoeſie erhoben hat,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/149>, abgerufen am 18.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.