Atmosphäre überträgt. Durch diese sämmtlichen Mittel bewegt sich die lyrische2. Poesie in den verschiedenen Richtungen der Zeit, wesentlich aber ist sie im Gegensatze gegen die epische Vergangenheit auf die Gegenwart gestellt.
1. Wir haben die Musik als die schlechthin subjective Kunst des Ge- fühls kennen gelernt, die als solche kein Object geben kann. Darum ist ihre Form das reine, verglichen mit aller andern Kunst gestaltlose Bewegungs- leben des Tons. Die Poesie hat sich über diese Sphäre erhoben und spricht mit dem Vehikel des articulirten Tons, des Worts, die innere Welt im Lichte des Bewußtseins aus. Wenn daher in ihr der Standpunct wieder- kehrt, auf dem das ganze System der Künste in der Musik steht, so muß, da dieß eine Versetzung auf denselben von einem andern Standpunct ist, zugleich mit der Analogie auch der tiefe Unterschied sich geltend machen; daher schon in §. 846, Anm. 2. gesagt ist, daß gegen das Stylgesetz, welches Verirrung der Dichtkunst in das Gebiet der Tonkunst abwehrt, auch die lyrische Form keine Einwendung begründe. Man kann nun das Verhältniß so bestimmen: das Gefühl ist die reine Mitte des Geisteslebens, woraus die bewußten Thätigkeiten stets auftauchen und worein sie stets zurücksinken; diese stehen daher beständig an seiner Schwelle (vergl. §. 748. 749); die Musik, als Kunst des reinen Gefühls, öffnet ihnen diesen Eintritt nicht; die lyrische Poesie öffnet ihn, umhüllt aber alle bestimmte Gestaltung, die hiemit eingelassen ist, mit dem Schleier des Empfindungs-Elements: ein stets sich vollziehender, stets sich zurücknehmender Uebertritt auf andern Boden, ein Schweben zwischen dem reinen, unbewußten Sichselbstvernehmen und dem bewußten Vernehmen der Dinge, ein Nebel mit lichten Durchblicken. Das Gemüth geht nur aus sich heraus, um in sich zu bleiben; es kann seinen Zustand nur aussprechen an Anderem, durch Hereinziehen von Solchem, was nicht mehr bloße Empfindung ist, aber es wird diesen Stoff auch blos hereinziehen, um ihm seine Farbe zu geben. Der lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen uner- schöpften unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unaussprechliches zwischen seinen Zeilen: das reine, wortlose Schwingungsleben des Gefühls. Er nennt und zeichnet uns Dinge, Gedanken, aber in ihnen immer nur sich, sein Herz, wie sie auf es wirken, aus ihm hervorsteigen und wie kein Ausdruck ihm genügt. -- Wir haben gesehen, wie in der Poesie die bildende Kunst sich wiederholt (§. 838); dieß wird in der epischen Dichtart im engeren Sinne zur Wahrheit, aber der Satz ist ganz allgemein ausgesprochen und muß auch in der Sphäre wahr bleiben, von welcher mit besonderem Nachdruck das Andere gilt, daß in der Poesie die Musik wiederkehrt. So sind es denn zunächst epische Elemente, d. h. Bilder der Anschauung, wodurch der
Atmoſphäre überträgt. Durch dieſe ſämmtlichen Mittel bewegt ſich die lyriſche2. Poeſie in den verſchiedenen Richtungen der Zeit, weſentlich aber iſt ſie im Gegenſatze gegen die epiſche Vergangenheit auf die Gegenwart geſtellt.
1. Wir haben die Muſik als die ſchlechthin ſubjective Kunſt des Ge- fühls kennen gelernt, die als ſolche kein Object geben kann. Darum iſt ihre Form das reine, verglichen mit aller andern Kunſt geſtaltloſe Bewegungs- leben des Tons. Die Poeſie hat ſich über dieſe Sphäre erhoben und ſpricht mit dem Vehikel des articulirten Tons, des Worts, die innere Welt im Lichte des Bewußtſeins aus. Wenn daher in ihr der Standpunct wieder- kehrt, auf dem das ganze Syſtem der Künſte in der Muſik ſteht, ſo muß, da dieß eine Verſetzung auf denſelben von einem andern Standpunct iſt, zugleich mit der Analogie auch der tiefe Unterſchied ſich geltend machen; daher ſchon in §. 846, Anm. 2. geſagt iſt, daß gegen das Stylgeſetz, welches Verirrung der Dichtkunſt in das Gebiet der Tonkunſt abwehrt, auch die lyriſche Form keine Einwendung begründe. Man kann nun das Verhältniß ſo beſtimmen: das Gefühl iſt die reine Mitte des Geiſteslebens, woraus die bewußten Thätigkeiten ſtets auftauchen und worein ſie ſtets zurückſinken; dieſe ſtehen daher beſtändig an ſeiner Schwelle (vergl. §. 748. 749); die Muſik, als Kunſt des reinen Gefühls, öffnet ihnen dieſen Eintritt nicht; die lyriſche Poeſie öffnet ihn, umhüllt aber alle beſtimmte Geſtaltung, die hiemit eingelaſſen iſt, mit dem Schleier des Empfindungs-Elements: ein ſtets ſich vollziehender, ſtets ſich zurücknehmender Uebertritt auf andern Boden, ein Schweben zwiſchen dem reinen, unbewußten Sichſelbſtvernehmen und dem bewußten Vernehmen der Dinge, ein Nebel mit lichten Durchblicken. Das Gemüth geht nur aus ſich heraus, um in ſich zu bleiben; es kann ſeinen Zuſtand nur ausſprechen an Anderem, durch Hereinziehen von Solchem, was nicht mehr bloße Empfindung iſt, aber es wird dieſen Stoff auch blos hereinziehen, um ihm ſeine Farbe zu geben. Der lyriſche Dichter ſagt, was ſich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er ſagt es daher ſo, daß er im Sagen verſtummt und durch ſein Verſtummen auf einen uner- ſchöpften unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unausſprechliches zwiſchen ſeinen Zeilen: das reine, wortloſe Schwingungsleben des Gefühls. Er nennt und zeichnet uns Dinge, Gedanken, aber in ihnen immer nur ſich, ſein Herz, wie ſie auf es wirken, aus ihm hervorſteigen und wie kein Ausdruck ihm genügt. — Wir haben geſehen, wie in der Poeſie die bildende Kunſt ſich wiederholt (§. 838); dieß wird in der epiſchen Dichtart im engeren Sinne zur Wahrheit, aber der Satz iſt ganz allgemein ausgeſprochen und muß auch in der Sphäre wahr bleiben, von welcher mit beſonderem Nachdruck das Andere gilt, daß in der Poeſie die Muſik wiederkehrt. So ſind es denn zunächſt epiſche Elemente, d. h. Bilder der Anſchauung, wodurch der
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Atmoſphäre überträgt. Durch dieſe ſämmtlichen Mittel bewegt ſich die lyriſche
Poeſie in den verſchiedenen Richtungen der Zeit, weſentlich aber iſt ſie im
Gegenſatze gegen die epiſche Vergangenheit auf die Gegenwart geſtellt.
1. Wir haben die Muſik als die ſchlechthin ſubjective Kunſt des Ge-
fühls kennen gelernt, die als ſolche kein Object geben kann. Darum iſt ihre
Form das reine, verglichen mit aller andern Kunſt geſtaltloſe Bewegungs-
leben des Tons. Die Poeſie hat ſich über dieſe Sphäre erhoben und ſpricht
mit dem Vehikel des articulirten Tons, des Worts, die innere Welt im
Lichte des Bewußtſeins aus. Wenn daher in ihr der Standpunct wieder-
kehrt, auf dem das ganze Syſtem der Künſte in der Muſik ſteht, ſo muß,
da dieß eine Verſetzung auf denſelben von einem andern Standpunct iſt,
zugleich mit der Analogie auch der tiefe Unterſchied ſich geltend machen;
daher ſchon in §. 846, Anm. 2. geſagt iſt, daß gegen das Stylgeſetz, welches
Verirrung der Dichtkunſt in das Gebiet der Tonkunſt abwehrt, auch die
lyriſche Form keine Einwendung begründe. Man kann nun das Verhältniß
ſo beſtimmen: das Gefühl iſt die reine Mitte des Geiſteslebens, woraus
die bewußten Thätigkeiten ſtets auftauchen und worein ſie ſtets zurückſinken;
dieſe ſtehen daher beſtändig an ſeiner Schwelle (vergl. §. 748. 749); die
Muſik, als Kunſt des reinen Gefühls, öffnet ihnen dieſen Eintritt nicht;
die lyriſche Poeſie öffnet ihn, umhüllt aber alle beſtimmte Geſtaltung, die
hiemit eingelaſſen iſt, mit dem Schleier des Empfindungs-Elements: ein
ſtets ſich vollziehender, ſtets ſich zurücknehmender Uebertritt auf andern
Boden, ein Schweben zwiſchen dem reinen, unbewußten Sichſelbſtvernehmen
und dem bewußten Vernehmen der Dinge, ein Nebel mit lichten Durchblicken.
Das Gemüth geht nur aus ſich heraus, um in ſich zu bleiben; es kann
ſeinen Zuſtand nur ausſprechen an Anderem, durch Hereinziehen von Solchem,
was nicht mehr bloße Empfindung iſt, aber es wird dieſen Stoff auch blos
hereinziehen, um ihm ſeine Farbe zu geben. Der lyriſche Dichter ſagt, was
ſich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er ſagt es daher ſo,
daß er im Sagen verſtummt und durch ſein Verſtummen auf einen uner-
ſchöpften unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unausſprechliches
zwiſchen ſeinen Zeilen: das reine, wortloſe Schwingungsleben des Gefühls.
Er nennt und zeichnet uns Dinge, Gedanken, aber in ihnen immer nur
ſich, ſein Herz, wie ſie auf es wirken, aus ihm hervorſteigen und wie kein
Ausdruck ihm genügt. — Wir haben geſehen, wie in der Poeſie die bildende
Kunſt ſich wiederholt (§. 838); dieß wird in der epiſchen Dichtart im engeren
Sinne zur Wahrheit, aber der Satz iſt ganz allgemein ausgeſprochen und
muß auch in der Sphäre wahr bleiben, von welcher mit beſonderem Nachdruck
das Andere gilt, daß in der Poeſie die Muſik wiederkehrt. So ſind es
denn zunächſt epiſche Elemente, d. h. Bilder der Anſchauung, wodurch der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/189>, abgerufen am 28.11.2024.
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