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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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3. Der erhabene Inhalt kann tiefer in das Gemüth steigen, jener Ton
des Schütterns und Dröhnens im Innersten, der dem Hymnischen eigen
ist, kann wärmer, inniger erklingen, ohne daß darum das Verhalten zu
einem außer und über dem Subjecte schwebenden Gegenstande sich verändert.
Das epische und gnomische Element tritt zurück, der Styl entwickelt ungleich
weniger in Erzählungsform, sondern häuft kürzere Bilder in rascher Folge
wie Brillanten auf das angestaunte Object. In der alt-orientalischen Welt
waren es die Semiten, welche ein tieferes subjectives Empfindungsleben
führten, als die andern Völker (vgl. §. 433, 3.). Die Unruhe der lyrischen
Bewegtheit bildet den Charakter ihrer Poesie. Da nun aber die Grund-
stimmung auch hier die erhabene ist, so ergibt sich von selbst eine bedeutende
Entwicklung des Hymnischen im Lyrischen. Es tritt nirgends so stark und
schön hervor, als in den Psalmen der Hebräer. Hegel hat (a. a. O.
S. 456) das Aufjauchzen und Aufschreien der Seele zu Gott aus ihren
Tiefen, das prachtvolle unruhige Bilderhäufen in kräftiger Kürze charakterisirt.
-- Das Mittelalter beginnt mit seinen lateinischen Hymnen wieder in
objectiverem Style, der doch so viel gefühlter ist, als der antike (Stabat
mater
u. And.); die Hymnen auf die Maria, auf die Dreieinigkeit in der
mittelhochdeutschen Poesie dagegen sind episch nur im Sinn eines unersätt-
lichen Drangs, an dem unerschöpflichen Gegenstande der mystischen Ver-
zückung jede mit irgend einer Pracht des Bildes darstellbare Seite zu
erschöpfen, der gefühltere Styl wird ganz zum heißen Tone der Inbrunst
(man sehe z. B. Gottfried's von Straßburg Hymnen auf die Maria). --
Die moderne Zeit hat hohe Wahrheiten, sittliche Gesetze, Natur-Anschauungen
zunächst ohne Personification zum natürlichen Gegenstand hymnischer Be-
geisterung. Obwohl hier die Objectivität im Sinne gegenübergestellter
Persönlichkeit wegfällt, bleibt sie doch, wie oben bemerkt, stehen im Sinne
stets vorschwebender Nähe einer Götter-artigen Anschauung, aber die Ratio-
nalität der Auffassung führt diese hohe Lyrik unserer Zeit doch sachte, enger
oder ferner an die Grenze der betrachtenden Poesie. So Göthe's edle
Hymnen: Gesang Mahomet's, Gesang der Geister über den Wassern, das
Göttliche, Grenzen der Menschheit, Meine Göttinn, Hölderlin's schon erwähn-
tes: An den Aether, ferner: das Schicksal, an den Genius der Kühnheit.
Ein Theil dieser Gedichte nennt schon Götter oder setzt vernehmlicher an,
die Idee, die den Haupt-Inhalt bildet, zu vergöttlichen, vollzogen ist der
Schritt in den herrlichen zwei Gebeten der Göthischen Iphigenie: "Du hast
Wolken, gnädige Retterinn" und "Es fürchte die Götter das Menschenge-
schlecht", in Hölderlin's hoch classisch und ewig wahr gefühltem "Schick-
salslied Hyperions". In Göthe's "Prometheus" dreht sich das Hymnische
merkwürdig so, daß die Hoheit der Götter eigentlich in den sie antrotzen-
den Helden herübertritt. Daß das Dithyrambische eine bleibende Seelen-

3. Der erhabene Inhalt kann tiefer in das Gemüth ſteigen, jener Ton
des Schütterns und Dröhnens im Innerſten, der dem Hymniſchen eigen
iſt, kann wärmer, inniger erklingen, ohne daß darum das Verhalten zu
einem außer und über dem Subjecte ſchwebenden Gegenſtande ſich verändert.
Das epiſche und gnomiſche Element tritt zurück, der Styl entwickelt ungleich
weniger in Erzählungsform, ſondern häuft kürzere Bilder in raſcher Folge
wie Brillanten auf das angeſtaunte Object. In der alt-orientaliſchen Welt
waren es die Semiten, welche ein tieferes ſubjectives Empfindungsleben
führten, als die andern Völker (vgl. §. 433, 3.). Die Unruhe der lyriſchen
Bewegtheit bildet den Charakter ihrer Poeſie. Da nun aber die Grund-
ſtimmung auch hier die erhabene iſt, ſo ergibt ſich von ſelbſt eine bedeutende
Entwicklung des Hymniſchen im Lyriſchen. Es tritt nirgends ſo ſtark und
ſchön hervor, als in den Pſalmen der Hebräer. Hegel hat (a. a. O.
S. 456) das Aufjauchzen und Aufſchreien der Seele zu Gott aus ihren
Tiefen, das prachtvolle unruhige Bilderhäufen in kräftiger Kürze charakteriſirt.
— Das Mittelalter beginnt mit ſeinen lateiniſchen Hymnen wieder in
objectiverem Style, der doch ſo viel gefühlter iſt, als der antike (Stabat
mater
u. And.); die Hymnen auf die Maria, auf die Dreieinigkeit in der
mittelhochdeutſchen Poeſie dagegen ſind epiſch nur im Sinn eines unerſätt-
lichen Drangs, an dem unerſchöpflichen Gegenſtande der myſtiſchen Ver-
zückung jede mit irgend einer Pracht des Bildes darſtellbare Seite zu
erſchöpfen, der gefühltere Styl wird ganz zum heißen Tone der Inbrunſt
(man ſehe z. B. Gottfried’s von Straßburg Hymnen auf die Maria). —
Die moderne Zeit hat hohe Wahrheiten, ſittliche Geſetze, Natur-Anſchauungen
zunächſt ohne Perſonification zum natürlichen Gegenſtand hymniſcher Be-
geiſterung. Obwohl hier die Objectivität im Sinne gegenübergeſtellter
Perſönlichkeit wegfällt, bleibt ſie doch, wie oben bemerkt, ſtehen im Sinne
ſtets vorſchwebender Nähe einer Götter-artigen Anſchauung, aber die Ratio-
nalität der Auffaſſung führt dieſe hohe Lyrik unſerer Zeit doch ſachte, enger
oder ferner an die Grenze der betrachtenden Poeſie. So Göthe’s edle
Hymnen: Geſang Mahomet’s, Geſang der Geiſter über den Waſſern, das
Göttliche, Grenzen der Menſchheit, Meine Göttinn, Hölderlin’s ſchon erwähn-
tes: An den Aether, ferner: das Schickſal, an den Genius der Kühnheit.
Ein Theil dieſer Gedichte nennt ſchon Götter oder ſetzt vernehmlicher an,
die Idee, die den Haupt-Inhalt bildet, zu vergöttlichen, vollzogen iſt der
Schritt in den herrlichen zwei Gebeten der Göthiſchen Iphigenie: „Du haſt
Wolken, gnädige Retterinn“ und „Es fürchte die Götter das Menſchenge-
ſchlecht“, in Hölderlin’s hoch claſſiſch und ewig wahr gefühltem „Schick-
ſalslied Hyperions“. In Göthe’s „Prometheus“ dreht ſich das Hymniſche
merkwürdig ſo, daß die Hoheit der Götter eigentlich in den ſie antrotzen-
den Helden herübertritt. Daß das Dithyrambiſche eine bleibende Seelen-

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[1350/0214] 3. Der erhabene Inhalt kann tiefer in das Gemüth ſteigen, jener Ton des Schütterns und Dröhnens im Innerſten, der dem Hymniſchen eigen iſt, kann wärmer, inniger erklingen, ohne daß darum das Verhalten zu einem außer und über dem Subjecte ſchwebenden Gegenſtande ſich verändert. Das epiſche und gnomiſche Element tritt zurück, der Styl entwickelt ungleich weniger in Erzählungsform, ſondern häuft kürzere Bilder in raſcher Folge wie Brillanten auf das angeſtaunte Object. In der alt-orientaliſchen Welt waren es die Semiten, welche ein tieferes ſubjectives Empfindungsleben führten, als die andern Völker (vgl. §. 433, 3.). Die Unruhe der lyriſchen Bewegtheit bildet den Charakter ihrer Poeſie. Da nun aber die Grund- ſtimmung auch hier die erhabene iſt, ſo ergibt ſich von ſelbſt eine bedeutende Entwicklung des Hymniſchen im Lyriſchen. Es tritt nirgends ſo ſtark und ſchön hervor, als in den Pſalmen der Hebräer. Hegel hat (a. a. O. S. 456) das Aufjauchzen und Aufſchreien der Seele zu Gott aus ihren Tiefen, das prachtvolle unruhige Bilderhäufen in kräftiger Kürze charakteriſirt. — Das Mittelalter beginnt mit ſeinen lateiniſchen Hymnen wieder in objectiverem Style, der doch ſo viel gefühlter iſt, als der antike (Stabat mater u. And.); die Hymnen auf die Maria, auf die Dreieinigkeit in der mittelhochdeutſchen Poeſie dagegen ſind epiſch nur im Sinn eines unerſätt- lichen Drangs, an dem unerſchöpflichen Gegenſtande der myſtiſchen Ver- zückung jede mit irgend einer Pracht des Bildes darſtellbare Seite zu erſchöpfen, der gefühltere Styl wird ganz zum heißen Tone der Inbrunſt (man ſehe z. B. Gottfried’s von Straßburg Hymnen auf die Maria). — Die moderne Zeit hat hohe Wahrheiten, ſittliche Geſetze, Natur-Anſchauungen zunächſt ohne Perſonification zum natürlichen Gegenſtand hymniſcher Be- geiſterung. Obwohl hier die Objectivität im Sinne gegenübergeſtellter Perſönlichkeit wegfällt, bleibt ſie doch, wie oben bemerkt, ſtehen im Sinne ſtets vorſchwebender Nähe einer Götter-artigen Anſchauung, aber die Ratio- nalität der Auffaſſung führt dieſe hohe Lyrik unſerer Zeit doch ſachte, enger oder ferner an die Grenze der betrachtenden Poeſie. So Göthe’s edle Hymnen: Geſang Mahomet’s, Geſang der Geiſter über den Waſſern, das Göttliche, Grenzen der Menſchheit, Meine Göttinn, Hölderlin’s ſchon erwähn- tes: An den Aether, ferner: das Schickſal, an den Genius der Kühnheit. Ein Theil dieſer Gedichte nennt ſchon Götter oder ſetzt vernehmlicher an, die Idee, die den Haupt-Inhalt bildet, zu vergöttlichen, vollzogen iſt der Schritt in den herrlichen zwei Gebeten der Göthiſchen Iphigenie: „Du haſt Wolken, gnädige Retterinn“ und „Es fürchte die Götter das Menſchenge- ſchlecht“, in Hölderlin’s hoch claſſiſch und ewig wahr gefühltem „Schick- ſalslied Hyperions“. In Göthe’s „Prometheus“ dreht ſich das Hymniſche merkwürdig ſo, daß die Hoheit der Götter eigentlich in den ſie antrotzen- den Helden herübertritt. Daß das Dithyrambiſche eine bleibende Seelen-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/214>, abgerufen am 23.11.2024.