der bloßen Empfindung oder des Denkens vertiefen, sondern muß durch Affect auf die Handlung lebendig überleiten, der Dialog darf nicht ein bloßer Aus- tausch von Gründen oder Gefühlen, sondern muß wechselseitig wirksam sein, 3.etwas in der Sachlage verändern. Das Feuer der Bewegung ergreift auch die einzelnen poetischen Mittel, namentlich die Tropen. Die entsprechende rhyth- mische Form ist der steigende, strebende Jambus.
1. Der epische Styl hat sein Grundgesetz im Standpuncte des Seins, der Substantialität, der Bewegung auf ruhiger Grundlage, der dramatische im Standpuncte des Werdens, nämlich des Werdens der That und des Schicksals aus dem Innern. Er ist daher ganz bewegte Linie, die vorwärts geht, ganz Bahn; spannt sich die Handlung dem Wesen nach von der Ge- genwart nach der Zukunft, so muß sich dieß natürlich auch im Styl aus- drücken: er muß vor Allem spannend sein. Es gibt freilich einen Mißbrauch, einen athemlos vorwärts hetzenden, jagenden Styl: die Eile muß ihre Weile, das Bild der Charaktere und ihrer Lagen muß Zeit haben, sich zu ent- wickeln; die Franzosen besonders neigen zum Uebermaaß der spannenden Bewegung, aber was am meisten und in Deutschland vor Allem Noth thut, ist die Warnung vor beschaulichem Weilen und Kleben, und nicht stark genug kann man unsern Dichtern zurufen: was nicht vorwärts drängt und daher nicht spannt, ist nicht dramatisch. Die Spannung löst sich von Stadium zu Stadium in Entscheidungen auf, bis der Schluß die letzte bringt; auf der Spitze des Messers schwebt die Handlung, ein Schlag, und der Würfel fällt. Hier wird die Spannung zur Ueberraschung; der subjective Ausdruck des Aristoteles, daß die Tragödie Furcht und Mitleid erwecke, ist durch den Begriff des Schreckens, doch in einzelnen Momenten der Tragödie und in Schauspiel und Komödie auch den der Freude und der komischen Erschütterung zu ergänzen. Daß sie in der Spannung vor- bereitet ist, schwächt die Ueberraschung nicht. Der Gang ist also in vollem Gegensatze gegen den epischen ein stoßweiser, das Merkmal des Plötzli- chen, was in allem Erhabenen und Komischen liegt, wird zum Styl-Merk- male, und ebenso stark ist hier unsern Dichtern zuzurufen: was nicht blitzt, durchschlägt, zündet, ist nicht dramatisch. Der Mißbrauch liegt freilich auch auf diesem Puncte nahe genug, aber von den zwei Uebeln: zu wenig oder zu viel Schlag und Erschütterung ist das letztere das, was nur am Maaße sündigt, das erstere am Wesen der Dicht-Art. Göthe hat in allen seinen Dramen keinen Moment, der so rein und ächt dramatisch wäre, wie der, wo Alba den Egmont in den Palast reiten, vom Pferde steigen sieht, und den folgenden, wo er ihn verhaftet. Iphigenie und Tasso sind un- sterbliche Seelengemälde ohne wahrhaft dramatische Spannung und Ueber- raschung. Schiller dagegen ist überall reich an solchen Momenten, wo alle
der bloßen Empfindung oder des Denkens vertiefen, ſondern muß durch Affect auf die Handlung lebendig überleiten, der Dialog darf nicht ein bloßer Aus- tauſch von Gründen oder Gefühlen, ſondern muß wechſelſeitig wirkſam ſein, 3.etwas in der Sachlage verändern. Das Feuer der Bewegung ergreift auch die einzelnen poetiſchen Mittel, namentlich die Tropen. Die entſprechende rhyth- miſche Form iſt der ſteigende, ſtrebende Jambus.
1. Der epiſche Styl hat ſein Grundgeſetz im Standpuncte des Seins, der Subſtantialität, der Bewegung auf ruhiger Grundlage, der dramatiſche im Standpuncte des Werdens, nämlich des Werdens der That und des Schickſals aus dem Innern. Er iſt daher ganz bewegte Linie, die vorwärts geht, ganz Bahn; ſpannt ſich die Handlung dem Weſen nach von der Ge- genwart nach der Zukunft, ſo muß ſich dieß natürlich auch im Styl aus- drücken: er muß vor Allem ſpannend ſein. Es gibt freilich einen Mißbrauch, einen athemlos vorwärts hetzenden, jagenden Styl: die Eile muß ihre Weile, das Bild der Charaktere und ihrer Lagen muß Zeit haben, ſich zu ent- wickeln; die Franzoſen beſonders neigen zum Uebermaaß der ſpannenden Bewegung, aber was am meiſten und in Deutſchland vor Allem Noth thut, iſt die Warnung vor beſchaulichem Weilen und Kleben, und nicht ſtark genug kann man unſern Dichtern zurufen: was nicht vorwärts drängt und daher nicht ſpannt, iſt nicht dramatiſch. Die Spannung löst ſich von Stadium zu Stadium in Entſcheidungen auf, bis der Schluß die letzte bringt; auf der Spitze des Meſſers ſchwebt die Handlung, ein Schlag, und der Würfel fällt. Hier wird die Spannung zur Ueberraſchung; der ſubjective Ausdruck des Ariſtoteles, daß die Tragödie Furcht und Mitleid erwecke, iſt durch den Begriff des Schreckens, doch in einzelnen Momenten der Tragödie und in Schauſpiel und Komödie auch den der Freude und der komiſchen Erſchütterung zu ergänzen. Daß ſie in der Spannung vor- bereitet iſt, ſchwächt die Ueberraſchung nicht. Der Gang iſt alſo in vollem Gegenſatze gegen den epiſchen ein ſtoßweiſer, das Merkmal des Plötzli- chen, was in allem Erhabenen und Komiſchen liegt, wird zum Styl-Merk- male, und ebenſo ſtark iſt hier unſern Dichtern zuzurufen: was nicht blitzt, durchſchlägt, zündet, iſt nicht dramatiſch. Der Mißbrauch liegt freilich auch auf dieſem Puncte nahe genug, aber von den zwei Uebeln: zu wenig oder zu viel Schlag und Erſchütterung iſt das letztere das, was nur am Maaße ſündigt, das erſtere am Weſen der Dicht-Art. Göthe hat in allen ſeinen Dramen keinen Moment, der ſo rein und ächt dramatiſch wäre, wie der, wo Alba den Egmont in den Palaſt reiten, vom Pferde ſteigen ſieht, und den folgenden, wo er ihn verhaftet. Iphigenie und Taſſo ſind un- ſterbliche Seelengemälde ohne wahrhaft dramatiſche Spannung und Ueber- raſchung. Schiller dagegen iſt überall reich an ſolchen Momenten, wo alle
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der bloßen Empfindung oder des Denkens vertiefen, ſondern muß durch Affect
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tauſch von Gründen oder Gefühlen, ſondern muß wechſelſeitig wirkſam ſein,
etwas in der Sachlage verändern. Das Feuer der Bewegung ergreift auch die
einzelnen poetiſchen Mittel, namentlich die Tropen. Die entſprechende rhyth-
miſche Form iſt der ſteigende, ſtrebende Jambus.
1. Der epiſche Styl hat ſein Grundgeſetz im Standpuncte des Seins,
der Subſtantialität, der Bewegung auf ruhiger Grundlage, der dramatiſche
im Standpuncte des Werdens, nämlich des Werdens der That und des
Schickſals aus dem Innern. Er iſt daher ganz bewegte Linie, die vorwärts
geht, ganz Bahn; ſpannt ſich die Handlung dem Weſen nach von der Ge-
genwart nach der Zukunft, ſo muß ſich dieß natürlich auch im Styl aus-
drücken: er muß vor Allem ſpannend ſein. Es gibt freilich einen Mißbrauch,
einen athemlos vorwärts hetzenden, jagenden Styl: die Eile muß ihre Weile,
das Bild der Charaktere und ihrer Lagen muß Zeit haben, ſich zu ent-
wickeln; die Franzoſen beſonders neigen zum Uebermaaß der ſpannenden
Bewegung, aber was am meiſten und in Deutſchland vor Allem Noth thut,
iſt die Warnung vor beſchaulichem Weilen und Kleben, und nicht ſtark
genug kann man unſern Dichtern zurufen: was nicht vorwärts drängt und
daher nicht ſpannt, iſt nicht dramatiſch. Die Spannung löst ſich von
Stadium zu Stadium in Entſcheidungen auf, bis der Schluß die letzte
bringt; auf der Spitze des Meſſers ſchwebt die Handlung, ein Schlag,
und der Würfel fällt. Hier wird die Spannung zur Ueberraſchung; der
ſubjective Ausdruck des Ariſtoteles, daß die Tragödie Furcht und Mitleid
erwecke, iſt durch den Begriff des Schreckens, doch in einzelnen Momenten
der Tragödie und in Schauſpiel und Komödie auch den der Freude und
der komiſchen Erſchütterung zu ergänzen. Daß ſie in der Spannung vor-
bereitet iſt, ſchwächt die Ueberraſchung nicht. Der Gang iſt alſo in vollem
Gegenſatze gegen den epiſchen ein ſtoßweiſer, das Merkmal des Plötzli-
chen, was in allem Erhabenen und Komiſchen liegt, wird zum Styl-Merk-
male, und ebenſo ſtark iſt hier unſern Dichtern zuzurufen: was nicht blitzt,
durchſchlägt, zündet, iſt nicht dramatiſch. Der Mißbrauch liegt freilich auch
auf dieſem Puncte nahe genug, aber von den zwei Uebeln: zu wenig oder
zu viel Schlag und Erſchütterung iſt das letztere das, was nur am Maaße
ſündigt, das erſtere am Weſen der Dicht-Art. Göthe hat in allen
ſeinen Dramen keinen Moment, der ſo rein und ächt dramatiſch wäre, wie
der, wo Alba den Egmont in den Palaſt reiten, vom Pferde ſteigen ſieht,
und den folgenden, wo er ihn verhaftet. Iphigenie und Taſſo ſind un-
ſterbliche Seelengemälde ohne wahrhaft dramatiſche Spannung und Ueber-
raſchung. Schiller dagegen iſt überall reich an ſolchen Momenten, wo alle
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/254>, abgerufen am 22.11.2024.
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