Herzen klopfen, jeder Nerv sich spannt und dann der Blitz der Entscheidung zuckt. Wie wirkungsvoll hat er, um nur dieß Eine zu erwähnen, die Scene der Ermordung Geßler's behandelt, wo wir Tell lauernd wissen, wo -- ein äußerst glückliches Motiv -- die flehende Armgart eintritt, Geßler ihr gegenüber den Uebermuth auf den Gipfel steigert und mitten in der harten, stolzen Rede vom Pfeil durchbohrt sein: "Ich will" -- stöhnend mit dem Ausruf abbricht: "Gott sei mir gnädig!" und vom Pferde sinkt. Der Großmeister aber in ächt dramatischer Spannung und Ueberraschung ist Shakespeare; wir weisen nur auf die Scene der Ermordung Duncan's im Makbeth hin. Lady Makbeth in grauenhafter Angst befindet sich auf der Bühne; ihre Worte: "er ist daran" sind ein Abgrund spannender Bangig- keit, dann bemerke man das tiefe künstlerische Motiv, daß Makbeth, ehe die That geschehen ist, noch einmal oben erscheint und fragt, was es gebe; dieß ist ein Verweilen, das uns zeigt, wie beide Gatten von den gleichen Schrecken der Gewissensangst durchbohrt sind; endlich tritt jener starr, stier mit den Worten auf: "ich hab' die That gethan" und es folgt die Schilderung ihrer Ausführung und seiner innern Zustände, die eine Unend- lichkeit von Entsetzen in sich schließt.
2. Das Epische im allgemeineren Sinne des Worts, wie es sich im Dramatischen erhält, ist das Geschehen überhaupt, das freilich hier zu einem intensiven Handeln wird. Es bedarf aber diese Dicht-Art eines epischen Elements in engerer Bedeutung: dieß ist die Erzählung. Sie ist nöthig, um Solches, was der Länge der Zeit und der Masse des Stoffs wegen nicht in gegenwärtiger Handlung dargestellt werden kann, doch vorzubringen, ferner um Gräßliches, was, unmittelbar vor das wirkliche Auge gebracht, unerträglich wäre, nur im Spiegel des Bewußtseins eines Zweiten zu zeigen, ein Mittel, das jedoch dem Schauder nur den grassen stoffartigen Cha- rakter nehmen, nicht ihn ersparen soll, ja denselben im geistigen Reflexe vielmehr unendlich steigert (vergl. §. 388, 1.). Dieß epische Element, in's dramatische versetzt, muß nun natürlich, von dem Charakter des letzteren ergriffen, einen beflügelten, schlagenden, kürzeren Styl annehmen. Bei den Alten waren die Berichte von Boten, Wächtern u. s. w. als stehende Form neben den lyrischen Gesängen in der Tragödie unterschieden und geläufig, sie haben noch mehr spezifisch epischen Ton und lieben größere Länge, als die modernen Erzählungen, wo das dramatische Gefühl in diesen Theil stärker eingedrungen ist. Man vergleiche mit antiken Erzählungen die zwei in Göthe's Iphigenie, wo diese das Schicksal ihres Hauses, Orestes die Ermordung seiner Mutter berichtet, man bemerke namentlich, wie gern die rasche Rede in's Präsens übergeht, und man wird den Unterschied erkennen. Es gibt innerhalb dieses Charakters der dramatischen Erzählung wieder einen Unterschied des mehr Epischen, mehr Lyrischen und mehr spezifisch Drama-
Herzen klopfen, jeder Nerv ſich ſpannt und dann der Blitz der Entſcheidung zuckt. Wie wirkungsvoll hat er, um nur dieß Eine zu erwähnen, die Scene der Ermordung Geßler’s behandelt, wo wir Tell lauernd wiſſen, wo — ein äußerſt glückliches Motiv — die flehende Armgart eintritt, Geßler ihr gegenüber den Uebermuth auf den Gipfel ſteigert und mitten in der harten, ſtolzen Rede vom Pfeil durchbohrt ſein: „Ich will“ — ſtöhnend mit dem Ausruf abbricht: „Gott ſei mir gnädig!“ und vom Pferde ſinkt. Der Großmeiſter aber in ächt dramatiſcher Spannung und Ueberraſchung iſt Shakespeare; wir weiſen nur auf die Scene der Ermordung Duncan’s im Makbeth hin. Lady Makbeth in grauenhafter Angſt befindet ſich auf der Bühne; ihre Worte: „er iſt daran“ ſind ein Abgrund ſpannender Bangig- keit, dann bemerke man das tiefe künſtleriſche Motiv, daß Makbeth, ehe die That geſchehen iſt, noch einmal oben erſcheint und fragt, was es gebe; dieß iſt ein Verweilen, das uns zeigt, wie beide Gatten von den gleichen Schrecken der Gewiſſensangſt durchbohrt ſind; endlich tritt jener ſtarr, ſtier mit den Worten auf: „ich hab’ die That gethan“ und es folgt die Schilderung ihrer Ausführung und ſeiner innern Zuſtände, die eine Unend- lichkeit von Entſetzen in ſich ſchließt.
2. Das Epiſche im allgemeineren Sinne des Worts, wie es ſich im Dramatiſchen erhält, iſt das Geſchehen überhaupt, das freilich hier zu einem intenſiven Handeln wird. Es bedarf aber dieſe Dicht-Art eines epiſchen Elements in engerer Bedeutung: dieß iſt die Erzählung. Sie iſt nöthig, um Solches, was der Länge der Zeit und der Maſſe des Stoffs wegen nicht in gegenwärtiger Handlung dargeſtellt werden kann, doch vorzubringen, ferner um Gräßliches, was, unmittelbar vor das wirkliche Auge gebracht, unerträglich wäre, nur im Spiegel des Bewußtſeins eines Zweiten zu zeigen, ein Mittel, das jedoch dem Schauder nur den graſſen ſtoffartigen Cha- rakter nehmen, nicht ihn erſparen ſoll, ja denſelben im geiſtigen Reflexe vielmehr unendlich ſteigert (vergl. §. 388, 1.). Dieß epiſche Element, in’s dramatiſche verſetzt, muß nun natürlich, von dem Charakter des letzteren ergriffen, einen beflügelten, ſchlagenden, kürzeren Styl annehmen. Bei den Alten waren die Berichte von Boten, Wächtern u. ſ. w. als ſtehende Form neben den lyriſchen Geſängen in der Tragödie unterſchieden und geläufig, ſie haben noch mehr ſpezifiſch epiſchen Ton und lieben größere Länge, als die modernen Erzählungen, wo das dramatiſche Gefühl in dieſen Theil ſtärker eingedrungen iſt. Man vergleiche mit antiken Erzählungen die zwei in Göthe’s Iphigenie, wo dieſe das Schickſal ihres Hauſes, Oreſtes die Ermordung ſeiner Mutter berichtet, man bemerke namentlich, wie gern die raſche Rede in’s Präſens übergeht, und man wird den Unterſchied erkennen. Es gibt innerhalb dieſes Charakters der dramatiſchen Erzählung wieder einen Unterſchied des mehr Epiſchen, mehr Lyriſchen und mehr ſpezifiſch Drama-
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der Ermordung Geßler’s behandelt, wo wir Tell lauernd wiſſen, wo —
ein äußerſt glückliches Motiv — die flehende Armgart eintritt, Geßler ihr
gegenüber den Uebermuth auf den Gipfel ſteigert und mitten in der harten,
ſtolzen Rede vom Pfeil durchbohrt ſein: „Ich will“ — ſtöhnend mit dem
Ausruf abbricht: „Gott ſei mir gnädig!“ und vom Pferde ſinkt. Der
Großmeiſter aber in ächt dramatiſcher Spannung und Ueberraſchung iſt
Shakespeare; wir weiſen nur auf die Scene der Ermordung Duncan’s im
Makbeth hin. Lady Makbeth in grauenhafter Angſt befindet ſich auf der
Bühne; ihre Worte: „er iſt daran“ ſind ein Abgrund ſpannender Bangig-
keit, dann bemerke man das tiefe künſtleriſche Motiv, daß Makbeth, ehe die
That geſchehen iſt, noch einmal oben erſcheint und fragt, was es gebe;
dieß iſt ein Verweilen, das uns zeigt, wie beide Gatten von den gleichen
Schrecken der Gewiſſensangſt durchbohrt ſind; endlich tritt jener ſtarr,
ſtier mit den Worten auf: „ich hab’ die That gethan“ und es folgt die
Schilderung ihrer Ausführung und ſeiner innern Zuſtände, die eine Unend-
lichkeit von Entſetzen in ſich ſchließt.
2. Das Epiſche im allgemeineren Sinne des Worts, wie es ſich im
Dramatiſchen erhält, iſt das Geſchehen überhaupt, das freilich hier zu einem
intenſiven Handeln wird. Es bedarf aber dieſe Dicht-Art eines epiſchen
Elements in engerer Bedeutung: dieß iſt die Erzählung. Sie iſt nöthig,
um Solches, was der Länge der Zeit und der Maſſe des Stoffs wegen
nicht in gegenwärtiger Handlung dargeſtellt werden kann, doch vorzubringen,
ferner um Gräßliches, was, unmittelbar vor das wirkliche Auge gebracht,
unerträglich wäre, nur im Spiegel des Bewußtſeins eines Zweiten zu zeigen,
ein Mittel, das jedoch dem Schauder nur den graſſen ſtoffartigen Cha-
rakter nehmen, nicht ihn erſparen ſoll, ja denſelben im geiſtigen Reflexe
vielmehr unendlich ſteigert (vergl. §. 388, 1.). Dieß epiſche Element,
in’s dramatiſche verſetzt, muß nun natürlich, von dem Charakter des letzteren
ergriffen, einen beflügelten, ſchlagenden, kürzeren Styl annehmen. Bei den
Alten waren die Berichte von Boten, Wächtern u. ſ. w. als ſtehende Form
neben den lyriſchen Geſängen in der Tragödie unterſchieden und geläufig,
ſie haben noch mehr ſpezifiſch epiſchen Ton und lieben größere Länge, als
die modernen Erzählungen, wo das dramatiſche Gefühl in dieſen Theil
ſtärker eingedrungen iſt. Man vergleiche mit antiken Erzählungen die zwei
in Göthe’s Iphigenie, wo dieſe das Schickſal ihres Hauſes, Oreſtes die
Ermordung ſeiner Mutter berichtet, man bemerke namentlich, wie gern die
raſche Rede in’s Präſens übergeht, und man wird den Unterſchied erkennen.
Es gibt innerhalb dieſes Charakters der dramatiſchen Erzählung wieder einen
Unterſchied des mehr Epiſchen, mehr Lyriſchen und mehr ſpezifiſch Drama-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/255>, abgerufen am 22.11.2024.
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