Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und von da aus die vorangehenden Sätze in's Licht stellen. Unsere Aufgabe ist, wenn nicht die ganze leitende Idee unserer Lehre von dem Leben der Kunst unrichtig sein soll, offenbar in das Wort zu fassen: Shakespeare's Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des Antiken. Um diesen Punct oscillirt die neuere dramatische Poesie der Deutschen wie die neuere Malerei um eine höhere Vereinigung des deutschen, niederlän- dischen Styls mit dem Raphaelischen oder überhaupt italienischen. Göthe nimmt die Wendung zum classicirenden Styl in seinem Egmont; der naturalistische, charakteristische, in den seine Jugendpoesie sich geworfen, und der hohe, ideale sind in diesem Drama als zwei nicht wirklich verschmolzene Elemente merklich zu unterscheiden, wie oft eine Strecke weit die Wasser zweier vereinigter Flüsse. Von da an vertieft Göthe seine antik gefühlten Gestalten durch moderne Humanität und deutsches Herz, aber er setzt sie nicht in die concrete Farbe der wirklichen Individualität und Naturwahrheit, schon darum nicht, weil es mehr Seelenbilder, als männliche Charakterge- stalten sind. Eine ähnliche Schwankung wie im Egmont ist in Schiller's Wallenstein; im Lager, in manchen Scenen und Zügen der beiden Picco- lomini und des Schlußstücks der Trilogie, die selbst bis zum behaglichen Humor charakteristisch sind, in dem tiefen Gefühle, womit Physiognomie und Stimmung der Zeit erfaßt ist, erkennt man Shakespeare's Geist, aber im Kothurn des rhetorischen Pathos, in der Idealität, die in Charakterzeich- nung und einzelner Darstellung doch wieder eine Welt von Zügen der strengeren geschichtlich naturwahren Haltung fern hält, vor Allem in der Schicksals-Idee tritt doch mit Uebergewicht die classische Stylisirung hervor. Von da an halten sich Schiller's Charaktere "in einer Mitte zwischen der typischen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare", so sagt Gervinus (Neuere Gesch. d. poet. Nationallit. d. Deutsch. Th. 2, S. 506 Ausg. 1842), geht aber offenbar zu weit; denn man wird dieß Wort, das eine so bedeutende Gedankenreihe eröffnet, nur auf einige derselben, nicht auf alle anwenden dürfen. Die Schiller'sche Charakterwelt ist weit mehr antik sententiös, rhetorisch und hochpathetisch, als Shakespearisch naturwahr und in die Einzelzüge der Eigenheit hinausgeführt, es sind weit mehr Typen, als Individuen, er generalisirt weit mehr, als er detaillirt. Seine Schicksals-Idee behielt immer einen Rest ungelöster Härte, der an die neidische Macht des altgriechischen Fatums erinnert. In der Braut von Messina nahm er förmlich diesen Begriff auf und gab dadurch den Anstoß zu den sog. Schicksalstragödien, in welchen das Fatum nicht nur in antiker Weise ein Vorausgesetztes, sondern in grasser Trivialität sogar an ein bestimmtes Datum, an ein bestimmtes sinnlich Einzelnes geknüpft ist. Von dieser Caricatur fern wollte Schiller ihm seine finstere Majestät
91*
Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und von da aus die vorangehenden Sätze in’s Licht ſtellen. Unſere Aufgabe iſt, wenn nicht die ganze leitende Idee unſerer Lehre von dem Leben der Kunſt unrichtig ſein ſoll, offenbar in das Wort zu faſſen: Shakespeare’s Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des Antiken. Um dieſen Punct oſcillirt die neuere dramatiſche Poeſie der Deutſchen wie die neuere Malerei um eine höhere Vereinigung des deutſchen, niederlän- diſchen Styls mit dem Raphaeliſchen oder überhaupt italieniſchen. Göthe nimmt die Wendung zum claſſicirenden Styl in ſeinem Egmont; der naturaliſtiſche, charakteriſtiſche, in den ſeine Jugendpoeſie ſich geworfen, und der hohe, ideale ſind in dieſem Drama als zwei nicht wirklich verſchmolzene Elemente merklich zu unterſcheiden, wie oft eine Strecke weit die Waſſer zweier vereinigter Flüſſe. Von da an vertieft Göthe ſeine antik gefühlten Geſtalten durch moderne Humanität und deutſches Herz, aber er ſetzt ſie nicht in die concrete Farbe der wirklichen Individualität und Naturwahrheit, ſchon darum nicht, weil es mehr Seelenbilder, als männliche Charakterge- ſtalten ſind. Eine ähnliche Schwankung wie im Egmont iſt in Schiller’s Wallenſtein; im Lager, in manchen Scenen und Zügen der beiden Picco- lomini und des Schlußſtücks der Trilogie, die ſelbſt bis zum behaglichen Humor charakteriſtiſch ſind, in dem tiefen Gefühle, womit Phyſiognomie und Stimmung der Zeit erfaßt iſt, erkennt man Shakespeare’s Geiſt, aber im Kothurn des rhetoriſchen Pathos, in der Idealität, die in Charakterzeich- nung und einzelner Darſtellung doch wieder eine Welt von Zügen der ſtrengeren geſchichtlich naturwahren Haltung fern hält, vor Allem in der Schickſals-Idee tritt doch mit Uebergewicht die claſſiſche Styliſirung hervor. Von da an halten ſich Schiller’s Charaktere „in einer Mitte zwiſchen der typiſchen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare“, ſo ſagt Gervinus (Neuere Geſch. d. poet. Nationallit. d. Deutſch. Th. 2, S. 506 Ausg. 1842), geht aber offenbar zu weit; denn man wird dieß Wort, das eine ſo bedeutende Gedankenreihe eröffnet, nur auf einige derſelben, nicht auf alle anwenden dürfen. Die Schiller’ſche Charakterwelt iſt weit mehr antik ſententiös, rhetoriſch und hochpathetiſch, als Shakespeariſch naturwahr und in die Einzelzüge der Eigenheit hinausgeführt, es ſind weit mehr Typen, als Individuen, er generaliſirt weit mehr, als er detaillirt. Seine Schickſals-Idee behielt immer einen Reſt ungelöster Härte, der an die neidiſche Macht des altgriechiſchen Fatums erinnert. In der Braut von Meſſina nahm er förmlich dieſen Begriff auf und gab dadurch den Anſtoß zu den ſog. Schickſalstragödien, in welchen das Fatum nicht nur in antiker Weiſe ein Vorausgeſetztes, ſondern in graſſer Trivialität ſogar an ein beſtimmtes Datum, an ein beſtimmtes ſinnlich Einzelnes geknüpft iſt. Von dieſer Caricatur fern wollte Schiller ihm ſeine finſtere Majeſtät
91*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><pbfacs="#f0281"n="1417"/><p><hirendition="#et">Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und<lb/>
von da aus die vorangehenden Sätze in’s Licht ſtellen. Unſere Aufgabe<lb/>
iſt, wenn nicht die ganze leitende Idee unſerer Lehre von dem Leben der<lb/>
Kunſt unrichtig ſein ſoll, offenbar in das Wort zu faſſen: <hirendition="#g">Shakespeare’s<lb/>
Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des Antiken</hi>.<lb/>
Um dieſen Punct oſcillirt die neuere dramatiſche Poeſie der Deutſchen wie<lb/>
die neuere Malerei um eine höhere Vereinigung des deutſchen, niederlän-<lb/>
diſchen Styls mit dem Raphaeliſchen oder überhaupt italieniſchen. Göthe<lb/>
nimmt die Wendung zum claſſicirenden Styl in ſeinem Egmont; der<lb/>
naturaliſtiſche, charakteriſtiſche, in den ſeine Jugendpoeſie ſich geworfen, und<lb/>
der hohe, ideale ſind in dieſem Drama als zwei nicht wirklich verſchmolzene<lb/>
Elemente merklich zu unterſcheiden, wie oft eine Strecke weit die Waſſer<lb/>
zweier vereinigter Flüſſe. Von da an vertieft Göthe ſeine antik gefühlten<lb/>
Geſtalten durch moderne Humanität und deutſches Herz, aber er ſetzt ſie<lb/>
nicht in die concrete Farbe der wirklichen Individualität und Naturwahrheit,<lb/>ſchon darum nicht, weil es mehr Seelenbilder, als männliche Charakterge-<lb/>ſtalten ſind. Eine ähnliche Schwankung wie im Egmont iſt in Schiller’s<lb/>
Wallenſtein; im Lager, in manchen Scenen und Zügen der beiden Picco-<lb/>
lomini und des Schlußſtücks der Trilogie, die ſelbſt bis zum behaglichen<lb/>
Humor charakteriſtiſch ſind, in dem tiefen Gefühle, womit Phyſiognomie<lb/>
und Stimmung der Zeit erfaßt iſt, erkennt man Shakespeare’s Geiſt, aber<lb/>
im Kothurn des rhetoriſchen Pathos, in der Idealität, die in Charakterzeich-<lb/>
nung und einzelner Darſtellung doch wieder eine Welt von Zügen der<lb/>ſtrengeren geſchichtlich naturwahren Haltung fern hält, vor Allem in der<lb/>
Schickſals-Idee tritt doch mit Uebergewicht die claſſiſche Styliſirung hervor.<lb/>
Von da an halten ſich Schiller’s Charaktere „in einer Mitte zwiſchen der<lb/>
typiſchen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare“, ſo ſagt<lb/>
Gervinus (Neuere Geſch. d. poet. Nationallit. d. Deutſch. Th. 2, S. 506<lb/>
Ausg. 1842), geht aber offenbar zu weit; denn man wird dieß Wort,<lb/>
das eine ſo bedeutende Gedankenreihe eröffnet, nur auf einige derſelben,<lb/>
nicht auf alle anwenden dürfen. Die Schiller’ſche Charakterwelt iſt weit<lb/>
mehr antik ſententiös, rhetoriſch und hochpathetiſch, als Shakespeariſch<lb/>
naturwahr und in die Einzelzüge der Eigenheit hinausgeführt, es ſind weit<lb/>
mehr Typen, als Individuen, er generaliſirt weit mehr, als er detaillirt.<lb/>
Seine Schickſals-Idee behielt immer einen Reſt ungelöster Härte, der an<lb/>
die neidiſche Macht des altgriechiſchen Fatums erinnert. In der Braut<lb/>
von Meſſina nahm er förmlich dieſen Begriff auf und gab dadurch den<lb/>
Anſtoß zu den ſog. Schickſalstragödien, in welchen das Fatum nicht nur<lb/>
in antiker Weiſe ein Vorausgeſetztes, ſondern in graſſer Trivialität ſogar<lb/>
an ein beſtimmtes Datum, an ein beſtimmtes ſinnlich Einzelnes geknüpft<lb/>
iſt. Von dieſer Caricatur fern wollte Schiller ihm ſeine finſtere Majeſtät</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig">91*</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[1417/0281]
Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und
von da aus die vorangehenden Sätze in’s Licht ſtellen. Unſere Aufgabe
iſt, wenn nicht die ganze leitende Idee unſerer Lehre von dem Leben der
Kunſt unrichtig ſein ſoll, offenbar in das Wort zu faſſen: Shakespeare’s
Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des Antiken.
Um dieſen Punct oſcillirt die neuere dramatiſche Poeſie der Deutſchen wie
die neuere Malerei um eine höhere Vereinigung des deutſchen, niederlän-
diſchen Styls mit dem Raphaeliſchen oder überhaupt italieniſchen. Göthe
nimmt die Wendung zum claſſicirenden Styl in ſeinem Egmont; der
naturaliſtiſche, charakteriſtiſche, in den ſeine Jugendpoeſie ſich geworfen, und
der hohe, ideale ſind in dieſem Drama als zwei nicht wirklich verſchmolzene
Elemente merklich zu unterſcheiden, wie oft eine Strecke weit die Waſſer
zweier vereinigter Flüſſe. Von da an vertieft Göthe ſeine antik gefühlten
Geſtalten durch moderne Humanität und deutſches Herz, aber er ſetzt ſie
nicht in die concrete Farbe der wirklichen Individualität und Naturwahrheit,
ſchon darum nicht, weil es mehr Seelenbilder, als männliche Charakterge-
ſtalten ſind. Eine ähnliche Schwankung wie im Egmont iſt in Schiller’s
Wallenſtein; im Lager, in manchen Scenen und Zügen der beiden Picco-
lomini und des Schlußſtücks der Trilogie, die ſelbſt bis zum behaglichen
Humor charakteriſtiſch ſind, in dem tiefen Gefühle, womit Phyſiognomie
und Stimmung der Zeit erfaßt iſt, erkennt man Shakespeare’s Geiſt, aber
im Kothurn des rhetoriſchen Pathos, in der Idealität, die in Charakterzeich-
nung und einzelner Darſtellung doch wieder eine Welt von Zügen der
ſtrengeren geſchichtlich naturwahren Haltung fern hält, vor Allem in der
Schickſals-Idee tritt doch mit Uebergewicht die claſſiſche Styliſirung hervor.
Von da an halten ſich Schiller’s Charaktere „in einer Mitte zwiſchen der
typiſchen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare“, ſo ſagt
Gervinus (Neuere Geſch. d. poet. Nationallit. d. Deutſch. Th. 2, S. 506
Ausg. 1842), geht aber offenbar zu weit; denn man wird dieß Wort,
das eine ſo bedeutende Gedankenreihe eröffnet, nur auf einige derſelben,
nicht auf alle anwenden dürfen. Die Schiller’ſche Charakterwelt iſt weit
mehr antik ſententiös, rhetoriſch und hochpathetiſch, als Shakespeariſch
naturwahr und in die Einzelzüge der Eigenheit hinausgeführt, es ſind weit
mehr Typen, als Individuen, er generaliſirt weit mehr, als er detaillirt.
Seine Schickſals-Idee behielt immer einen Reſt ungelöster Härte, der an
die neidiſche Macht des altgriechiſchen Fatums erinnert. In der Braut
von Meſſina nahm er förmlich dieſen Begriff auf und gab dadurch den
Anſtoß zu den ſog. Schickſalstragödien, in welchen das Fatum nicht nur
in antiker Weiſe ein Vorausgeſetztes, ſondern in graſſer Trivialität ſogar
an ein beſtimmtes Datum, an ein beſtimmtes ſinnlich Einzelnes geknüpft
iſt. Von dieſer Caricatur fern wollte Schiller ihm ſeine finſtere Majeſtät
91*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/281>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.