rechtfertigt, die keinen ganzen Humor versteht und nichts zu greifen meint, wenn ihre plumpen Finger nicht ein solides Stück nackter Wahrheit fassen und eine Moral ad saccum schieben können; der verbreitetere Grund des in Rede stehenden Bedürfnisses ist leider dieser prosaische Sinn, der die Wahrheit, daß unsere Komödie in prosaischen Verhältnissen spielt, aber eben aus ihnen ihre komischen Contraste zieht, in die Unwahrheit der Forderung eines prosaischen, stoffartig berechneten Inhalts verkehrt. Da kann freilich die Shakespeare'sche Komödie nicht mehr verstanden werden, die nicht nur eine Welt phantasiereicher, flüssiger, jeder lustigen Grille Luft lassender Sitte zum Schauplatz hat und daher die Tiefen der Komik aus dem ungehemmt waltenden Charakter schöpft, sondern selbst den schweren Ernst, wo sie ihn einführt, mit dem ganzen übrigen Inhalt in leichten, perlenden Cham- pagnerschaum, in stofflosen Aether des Humors auflöst. -- Dieß führt uns in entgegengesetzter Richtung zu dem Puncte zurück, zu dem uns die Tra- gödie mit glücklichem Ausgang in §. 914 führte. Es ist ein schwankender Unterschied verschiedener Annäherungsgrade an diese Form des Tragischen, der sich aus jener Mischung erzeugt und der sich am besten an Shakes- peare's Stücken aufweisen läßt, auf die wir zurückkommen, nachdem wir ebendort bereits gesagt, daß wir ihm nicht schlechthin Recht geben, wenn er eine Tragödie mit glücklichem Ausgang anders, als mit so starker Ein- mischung des Komischen, daß eine Komödie entsteht, gar nicht kennt. Wir untersuchen hier nicht, ob er im einen oder andern der folgenden Dramen nicht besser das Komische mehr gespart und so das daraus gemacht hätte, was wir gewohnt sind ein Schauspiel zu nennen, sondern sagen nur, daß die verschiedenen Stufen der Annäherung an dieses, wie sie hier sich dar- stellen, überhaupt möglich sind und bleiben. Die eine steht durch besondere Stärke und Ausdehnung des Ernstes in der nächsten Nachbarschaft des Schauspiels; so der Kaufmann von Venedig, Ende gut Alles gut, Viel Lärmen um Nichts, Sturm, Cymbeline, Maaß für Maaß, das Winter- mährchen. Shakespeare hat eine eigene Kraft, das Peinliche, Furchtbare, Schauerliche in ganze und anhaltende Wirkung zu setzen und ihm doch einen leichten, schwebenden Charakter zu geben, so daß man es von Anfang an nur wie einen bösen Traum fühlt; ein Reich des Lichtes, Gewißheit des über Dämonen siegenden Geistes, gießt seine Strahlen darüber aus, gesammelt in Charakteren wie Porzia. Nach dieser Form folgt eine zweite, worin das Komische entschiedener überwächst, aber ein rührender, sentimen- taler Hauptfaden hindurchgeht; hieher gehören H. Dreykönigsabend, So wie es euch gefällt, hieher auch die ganze Hauptmasse des neueren Lust- spiels, nur daß kaum irgendwo das Sentimentale in jenen tiefen, fließenden, immanenten Zusammenhang eines humoristischen Charakters gestellt ist wie namentlich in dem letzteren Stücke Shakespeare's und dessen Hauptfigur,
rechtfertigt, die keinen ganzen Humor verſteht und nichts zu greifen meint, wenn ihre plumpen Finger nicht ein ſolides Stück nackter Wahrheit faſſen und eine Moral ad saccum ſchieben können; der verbreitetere Grund des in Rede ſtehenden Bedürfniſſes iſt leider dieſer proſaiſche Sinn, der die Wahrheit, daß unſere Komödie in proſaiſchen Verhältniſſen ſpielt, aber eben aus ihnen ihre komiſchen Contraſte zieht, in die Unwahrheit der Forderung eines proſaiſchen, ſtoffartig berechneten Inhalts verkehrt. Da kann freilich die Shakespeare’ſche Komödie nicht mehr verſtanden werden, die nicht nur eine Welt phantaſiereicher, flüſſiger, jeder luſtigen Grille Luft laſſender Sitte zum Schauplatz hat und daher die Tiefen der Komik aus dem ungehemmt waltenden Charakter ſchöpft, ſondern ſelbſt den ſchweren Ernſt, wo ſie ihn einführt, mit dem ganzen übrigen Inhalt in leichten, perlenden Cham- pagnerſchaum, in ſtoffloſen Aether des Humors auflöst. — Dieß führt uns in entgegengeſetzter Richtung zu dem Puncte zurück, zu dem uns die Tra- gödie mit glücklichem Ausgang in §. 914 führte. Es iſt ein ſchwankender Unterſchied verſchiedener Annäherungsgrade an dieſe Form des Tragiſchen, der ſich aus jener Miſchung erzeugt und der ſich am beſten an Shakes- peare’s Stücken aufweiſen läßt, auf die wir zurückkommen, nachdem wir ebendort bereits geſagt, daß wir ihm nicht ſchlechthin Recht geben, wenn er eine Tragödie mit glücklichem Ausgang anders, als mit ſo ſtarker Ein- miſchung des Komiſchen, daß eine Komödie entſteht, gar nicht kennt. Wir unterſuchen hier nicht, ob er im einen oder andern der folgenden Dramen nicht beſſer das Komiſche mehr geſpart und ſo das daraus gemacht hätte, was wir gewohnt ſind ein Schauſpiel zu nennen, ſondern ſagen nur, daß die verſchiedenen Stufen der Annäherung an dieſes, wie ſie hier ſich dar- ſtellen, überhaupt möglich ſind und bleiben. Die eine ſteht durch beſondere Stärke und Ausdehnung des Ernſtes in der nächſten Nachbarſchaft des Schauſpiels; ſo der Kaufmann von Venedig, Ende gut Alles gut, Viel Lärmen um Nichts, Sturm, Cymbeline, Maaß für Maaß, das Winter- mährchen. Shakespeare hat eine eigene Kraft, das Peinliche, Furchtbare, Schauerliche in ganze und anhaltende Wirkung zu ſetzen und ihm doch einen leichten, ſchwebenden Charakter zu geben, ſo daß man es von Anfang an nur wie einen böſen Traum fühlt; ein Reich des Lichtes, Gewißheit des über Dämonen ſiegenden Geiſtes, gießt ſeine Strahlen darüber aus, geſammelt in Charakteren wie Porzia. Nach dieſer Form folgt eine zweite, worin das Komiſche entſchiedener überwächst, aber ein rührender, ſentimen- taler Hauptfaden hindurchgeht; hieher gehören H. Dreykönigsabend, So wie es euch gefällt, hieher auch die ganze Hauptmaſſe des neueren Luſt- ſpiels, nur daß kaum irgendwo das Sentimentale in jenen tiefen, fließenden, immanenten Zuſammenhang eines humoriſtiſchen Charakters geſtellt iſt wie namentlich in dem letzteren Stücke Shakespeare’s und deſſen Hauptfigur,
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[1440/0304]
rechtfertigt, die keinen ganzen Humor verſteht und nichts zu greifen meint,
wenn ihre plumpen Finger nicht ein ſolides Stück nackter Wahrheit faſſen
und eine Moral ad saccum ſchieben können; der verbreitetere Grund des
in Rede ſtehenden Bedürfniſſes iſt leider dieſer proſaiſche Sinn, der die
Wahrheit, daß unſere Komödie in proſaiſchen Verhältniſſen ſpielt, aber eben
aus ihnen ihre komiſchen Contraſte zieht, in die Unwahrheit der Forderung
eines proſaiſchen, ſtoffartig berechneten Inhalts verkehrt. Da kann freilich
die Shakespeare’ſche Komödie nicht mehr verſtanden werden, die nicht nur
eine Welt phantaſiereicher, flüſſiger, jeder luſtigen Grille Luft laſſender Sitte
zum Schauplatz hat und daher die Tiefen der Komik aus dem ungehemmt
waltenden Charakter ſchöpft, ſondern ſelbſt den ſchweren Ernſt, wo ſie ihn
einführt, mit dem ganzen übrigen Inhalt in leichten, perlenden Cham-
pagnerſchaum, in ſtoffloſen Aether des Humors auflöst. — Dieß führt uns
in entgegengeſetzter Richtung zu dem Puncte zurück, zu dem uns die Tra-
gödie mit glücklichem Ausgang in §. 914 führte. Es iſt ein ſchwankender
Unterſchied verſchiedener Annäherungsgrade an dieſe Form des Tragiſchen,
der ſich aus jener Miſchung erzeugt und der ſich am beſten an Shakes-
peare’s Stücken aufweiſen läßt, auf die wir zurückkommen, nachdem wir
ebendort bereits geſagt, daß wir ihm nicht ſchlechthin Recht geben, wenn
er eine Tragödie mit glücklichem Ausgang anders, als mit ſo ſtarker Ein-
miſchung des Komiſchen, daß eine Komödie entſteht, gar nicht kennt. Wir
unterſuchen hier nicht, ob er im einen oder andern der folgenden Dramen
nicht beſſer das Komiſche mehr geſpart und ſo das daraus gemacht hätte,
was wir gewohnt ſind ein Schauſpiel zu nennen, ſondern ſagen nur, daß
die verſchiedenen Stufen der Annäherung an dieſes, wie ſie hier ſich dar-
ſtellen, überhaupt möglich ſind und bleiben. Die eine ſteht durch beſondere
Stärke und Ausdehnung des Ernſtes in der nächſten Nachbarſchaft des
Schauſpiels; ſo der Kaufmann von Venedig, Ende gut Alles gut, Viel
Lärmen um Nichts, Sturm, Cymbeline, Maaß für Maaß, das Winter-
mährchen. Shakespeare hat eine eigene Kraft, das Peinliche, Furchtbare,
Schauerliche in ganze und anhaltende Wirkung zu ſetzen und ihm doch
einen leichten, ſchwebenden Charakter zu geben, ſo daß man es von Anfang
an nur wie einen böſen Traum fühlt; ein Reich des Lichtes, Gewißheit
des über Dämonen ſiegenden Geiſtes, gießt ſeine Strahlen darüber aus,
geſammelt in Charakteren wie Porzia. Nach dieſer Form folgt eine zweite,
worin das Komiſche entſchiedener überwächst, aber ein rührender, ſentimen-
taler Hauptfaden hindurchgeht; hieher gehören H. Dreykönigsabend, So
wie es euch gefällt, hieher auch die ganze Hauptmaſſe des neueren Luſt-
ſpiels, nur daß kaum irgendwo das Sentimentale in jenen tiefen, fließenden,
immanenten Zuſammenhang eines humoriſtiſchen Charakters geſtellt iſt wie
namentlich in dem letzteren Stücke Shakespeare’s und deſſen Hauptfigur,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/304>, abgerufen am 16.02.2025.
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