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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Anhang zur Lehre von der Dichtkunst überhaupt.
Satyrische, didaktische Poesie, Rhetorik.
§. 923.

Außer dem Schritte, wodurch die Poesie schließlich innerhalb der reinen
Kunstsphäre sich mit andern Künsten verbindet, ist nur noch der eine möglich,
wodurch sie sich nach dem fremden geistigen Gebiet öffnet, woran sie am nächsten
grenzt: der Prosa (vergl. §. 848). Es entsteht eine Mischung des Schönen
mit dem Wahren und Guten, welche, obwohl nicht rein ästhetisch, doch von
großer allgemein menschlicher, geschichtlicher Bedeutung ist. In keiner andern
Kunst ist dieß Grenzgebiet so ausgedehnt und mannigfaltig.

Die Kunst kann innerhalb ihrer selbst nicht weiter, sie tritt über ihre
Grenze hinaus und geht verschiedene Mischungsverhältnisse mit der scheinlosen,
von der ästhetischen Einheit mit dem Bilde gelösten Idee, mit der reinen
Darstellung des Wahren und Guten ein. Von anderem Standpuncte, vom
Boden der Prosa gesehen, ist es umgekehrt ein Uebergreifen dieses Gebiets in
das ästhetische, eine Vermählung der nackten Wahrheit mit dem Schönen, eine
Erhebung, wenn man will; "die Fußgängerinn Prosa entlehnt das Fuhr-
werk der Dichtkunst" (Plutarch V. d. Lect. d. Dichter C. 2). Diese zwei
Auffassungen widersprechen sich nicht, sondern heben sich in den Begriff
eines Entgegenkommens beider Sphären auf; praktisch findet in unbestimmten
Uebergängen bald der eine, bald der andere Standpunct seine Anwendung,
denn bei dem einen Poeten ist es mehr Nachlassen der Dichterkraft, bei
dem andern Aufstreben vom Abstracten zum Anschauungsvollen, was dem
Prozesse zu Grund liegt, durch welchen lehrhafte oder satyrische Erzeugnisse
entstehen. Das Wesentliche ist immer, daß von der Idee, vom Allgemeinen
aus das Bild gesucht und äußerlich hinzugezogen wird, es gibt aber unend-
liche feine Unterschiede der Innigkeit oder Aeußerlichkeit im Anklingen und
Mitklingen des ästhetischen Elements und die Grenze, wo das reine orga-
nische Band der Bestandtheile bricht oder die Kraft nicht reicht, es zu

Anhang zur Lehre von der Dichtkunſt überhaupt.
Satyriſche, didaktiſche Poeſie, Rhetorik.
§. 923.

Außer dem Schritte, wodurch die Poeſie ſchließlich innerhalb der reinen
Kunſtſphäre ſich mit andern Künſten verbindet, iſt nur noch der eine möglich,
wodurch ſie ſich nach dem fremden geiſtigen Gebiet öffnet, woran ſie am nächſten
grenzt: der Proſa (vergl. §. 848). Es entſteht eine Miſchung des Schönen
mit dem Wahren und Guten, welche, obwohl nicht rein äſthetiſch, doch von
großer allgemein menſchlicher, geſchichtlicher Bedeutung iſt. In keiner andern
Kunſt iſt dieß Grenzgebiet ſo ausgedehnt und mannigfaltig.

Die Kunſt kann innerhalb ihrer ſelbſt nicht weiter, ſie tritt über ihre
Grenze hinaus und geht verſchiedene Miſchungsverhältniſſe mit der ſcheinloſen,
von der äſthetiſchen Einheit mit dem Bilde gelösten Idee, mit der reinen
Darſtellung des Wahren und Guten ein. Von anderem Standpuncte, vom
Boden der Proſa geſehen, iſt es umgekehrt ein Uebergreifen dieſes Gebiets in
das äſthetiſche, eine Vermählung der nackten Wahrheit mit dem Schönen, eine
Erhebung, wenn man will; „die Fußgängerinn Proſa entlehnt das Fuhr-
werk der Dichtkunſt“ (Plutarch V. d. Lect. d. Dichter C. 2). Dieſe zwei
Auffaſſungen widerſprechen ſich nicht, ſondern heben ſich in den Begriff
eines Entgegenkommens beider Sphären auf; praktiſch findet in unbeſtimmten
Uebergängen bald der eine, bald der andere Standpunct ſeine Anwendung,
denn bei dem einen Poeten iſt es mehr Nachlaſſen der Dichterkraft, bei
dem andern Aufſtreben vom Abſtracten zum Anſchauungsvollen, was dem
Prozeſſe zu Grund liegt, durch welchen lehrhafte oder ſatyriſche Erzeugniſſe
entſtehen. Das Weſentliche iſt immer, daß von der Idee, vom Allgemeinen
aus das Bild geſucht und äußerlich hinzugezogen wird, es gibt aber unend-
liche feine Unterſchiede der Innigkeit oder Aeußerlichkeit im Anklingen und
Mitklingen des äſthetiſchen Elements und die Grenze, wo das reine orga-
niſche Band der Beſtandtheile bricht oder die Kraft nicht reicht, es zu

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[[1456]/0320] Anhang zur Lehre von der Dichtkunſt überhaupt. Satyriſche, didaktiſche Poeſie, Rhetorik. §. 923. Außer dem Schritte, wodurch die Poeſie ſchließlich innerhalb der reinen Kunſtſphäre ſich mit andern Künſten verbindet, iſt nur noch der eine möglich, wodurch ſie ſich nach dem fremden geiſtigen Gebiet öffnet, woran ſie am nächſten grenzt: der Proſa (vergl. §. 848). Es entſteht eine Miſchung des Schönen mit dem Wahren und Guten, welche, obwohl nicht rein äſthetiſch, doch von großer allgemein menſchlicher, geſchichtlicher Bedeutung iſt. In keiner andern Kunſt iſt dieß Grenzgebiet ſo ausgedehnt und mannigfaltig. Die Kunſt kann innerhalb ihrer ſelbſt nicht weiter, ſie tritt über ihre Grenze hinaus und geht verſchiedene Miſchungsverhältniſſe mit der ſcheinloſen, von der äſthetiſchen Einheit mit dem Bilde gelösten Idee, mit der reinen Darſtellung des Wahren und Guten ein. Von anderem Standpuncte, vom Boden der Proſa geſehen, iſt es umgekehrt ein Uebergreifen dieſes Gebiets in das äſthetiſche, eine Vermählung der nackten Wahrheit mit dem Schönen, eine Erhebung, wenn man will; „die Fußgängerinn Proſa entlehnt das Fuhr- werk der Dichtkunſt“ (Plutarch V. d. Lect. d. Dichter C. 2). Dieſe zwei Auffaſſungen widerſprechen ſich nicht, ſondern heben ſich in den Begriff eines Entgegenkommens beider Sphären auf; praktiſch findet in unbeſtimmten Uebergängen bald der eine, bald der andere Standpunct ſeine Anwendung, denn bei dem einen Poeten iſt es mehr Nachlaſſen der Dichterkraft, bei dem andern Aufſtreben vom Abſtracten zum Anſchauungsvollen, was dem Prozeſſe zu Grund liegt, durch welchen lehrhafte oder ſatyriſche Erzeugniſſe entſtehen. Das Weſentliche iſt immer, daß von der Idee, vom Allgemeinen aus das Bild geſucht und äußerlich hinzugezogen wird, es gibt aber unend- liche feine Unterſchiede der Innigkeit oder Aeußerlichkeit im Anklingen und Mitklingen des äſthetiſchen Elements und die Grenze, wo das reine orga- niſche Band der Beſtandtheile bricht oder die Kraft nicht reicht, es zu

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. [1456]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/320>, abgerufen am 24.11.2024.