Folgen von solchen, an bestehende Zustände als Product des Gemeinwillens in weit verwickelter Wechselwirkung mit den Bedingungen der umgebenden Natur u. s. w. Ueberhaupt wird die Poesie verschiedene Formen treiben, deren eine mittelbarer, die andere unmittelbarer die innere Einheit der Welt- anschauung dieser Kunst bis zu solcher Straffheit entwickelt, und es ist das hier erst Angedeutete in der Lehre von den Zweigen wieder aufzunehmen. -- Auch die Persönlichkeit des Dichters ist hier noch einmal in's Auge zu fassen: was zu §. 385, §. 389 Anm. 2. §. 393, 2. als Bedingung der Phantasiethätigkeit überhaupt aufgestellt ist: ein reiches Erfahrungsleben, das gilt ebenfalls mit besonderem Nachdruck dem Dichter. Da in seiner Künstlerhand alles Leben zum Seelenleben werden, da er die ganze Außen- welt in's Innere führen und wenden soll, so muß er mit dem scharfen Auge der objectiven Anschauung den lebendigsten Nerv der Theilnahme ver- einigen und dieß kann er nicht, ohne in den Strudel des Lebens, das Meer der Leidenschaften und tiefsten Kämpfe selbst hineingerissen zu werden. Wessen Brust das Leben nicht durchwühlt, wer nicht der Menschheit ganzes Wohl und Wehe erlebt hat, ist kein Dichter. Es ist nicht vorausgesetzt, daß buch- stäblich alles Schwerste, Aufregendste erlebt sei, dem Dichter-Gemüthe kann zum Himmel und zur Hölle werden, was Andere nur leicht anstreift, aber genug muß erlebt sein, um sich in jedes Glied der Kette menschlicher Erfahrungen lebendig versetzen zu können. Um so stärker ist aber auch die andere For- derung festzuhalten: wer aus dem wühlenden Kampfe nicht gesammelt und geläutert hervorgegangen ist, der ist auch kein Dichter, denn wir brauchen nicht auf's Neue zu beweisen, daß das eigene Innere nicht mehr stoffartig mit einer Leidenschaft verwachsen sein darf, wenn sie zum künstlerischen Stoffe werden soll. Shakespeare's Sonette geben einen höchst merkwürdigen Blick in ein Gemüth, das von furchtbaren Kämpfen durchwühlt ist, aber sich mit der strengsten ethischen Kraft der Selbstbestimmung daraus emporarbeitet und Verjüngung aus dem trinkt, was Vernichtung drohte; Tieck hat dieß im Dichterleben tiefsinnig verwendet und [...]durch Zusammenstellung mit R. Green und Marlowe dem Erhebungsprozeß Shakespeare's die künstlerische Folie gegeben. Ein durchaus normales Bild für den Satz, von dem es sich hier handelt, ist auch Göthe's Leben, namentlich die Entstehung von Werther's Leiden, worauf schon in Anm. 2. zu §. 393 hingewiesen ist.
2. Es ist ausdrücklich hervorzuheben, daß die Dichtkunst fähig und be- rechtigt ist, auch Abstractes auszusprechen. Es steht dieß nicht in Wider- spruch mit §. 16, welcher strenge die Verwechslung der Idee mit dem abstracten Begriff ausschließt, denn dort ist die Rede vom Mittelpunct eines ästhetischen Ganzen, hier von Solchem, was nur als Moment im Verlaufe dieses Ganzen auftritt. Natürlich muß ein solches, an sich prosaisches, Moment in sichtbarem Zusammenhang von Grund oder Folge mit dem
Folgen von ſolchen, an beſtehende Zuſtände als Product des Gemeinwillens in weit verwickelter Wechſelwirkung mit den Bedingungen der umgebenden Natur u. ſ. w. Ueberhaupt wird die Poeſie verſchiedene Formen treiben, deren eine mittelbarer, die andere unmittelbarer die innere Einheit der Welt- anſchauung dieſer Kunſt bis zu ſolcher Straffheit entwickelt, und es iſt das hier erſt Angedeutete in der Lehre von den Zweigen wieder aufzunehmen. — Auch die Perſönlichkeit des Dichters iſt hier noch einmal in’s Auge zu faſſen: was zu §. 385, §. 389 Anm. 2. §. 393, 2. als Bedingung der Phantaſiethätigkeit überhaupt aufgeſtellt iſt: ein reiches Erfahrungsleben, das gilt ebenfalls mit beſonderem Nachdruck dem Dichter. Da in ſeiner Künſtlerhand alles Leben zum Seelenleben werden, da er die ganze Außen- welt in’s Innere führen und wenden ſoll, ſo muß er mit dem ſcharfen Auge der objectiven Anſchauung den lebendigſten Nerv der Theilnahme ver- einigen und dieß kann er nicht, ohne in den Strudel des Lebens, das Meer der Leidenſchaften und tiefſten Kämpfe ſelbſt hineingeriſſen zu werden. Weſſen Bruſt das Leben nicht durchwühlt, wer nicht der Menſchheit ganzes Wohl und Wehe erlebt hat, iſt kein Dichter. Es iſt nicht vorausgeſetzt, daß buch- ſtäblich alles Schwerſte, Aufregendſte erlebt ſei, dem Dichter-Gemüthe kann zum Himmel und zur Hölle werden, was Andere nur leicht anſtreift, aber genug muß erlebt ſein, um ſich in jedes Glied der Kette menſchlicher Erfahrungen lebendig verſetzen zu können. Um ſo ſtärker iſt aber auch die andere For- derung feſtzuhalten: wer aus dem wühlenden Kampfe nicht geſammelt und geläutert hervorgegangen iſt, der iſt auch kein Dichter, denn wir brauchen nicht auf’s Neue zu beweiſen, daß das eigene Innere nicht mehr ſtoffartig mit einer Leidenſchaft verwachſen ſein darf, wenn ſie zum künſtleriſchen Stoffe werden ſoll. Shakespeare’s Sonette geben einen höchſt merkwürdigen Blick in ein Gemüth, das von furchtbaren Kämpfen durchwühlt iſt, aber ſich mit der ſtrengſten ethiſchen Kraft der Selbſtbeſtimmung daraus emporarbeitet und Verjüngung aus dem trinkt, was Vernichtung drohte; Tieck hat dieß im Dichterleben tiefſinnig verwendet und […]durch Zuſammenſtellung mit R. Green und Marlowe dem Erhebungsprozeß Shakespeare’s die künſtleriſche Folie gegeben. Ein durchaus normales Bild für den Satz, von dem es ſich hier handelt, iſt auch Göthe’s Leben, namentlich die Entſtehung von Werther’s Leiden, worauf ſchon in Anm. 2. zu §. 393 hingewieſen iſt.
2. Es iſt ausdrücklich hervorzuheben, daß die Dichtkunſt fähig und be- rechtigt iſt, auch Abſtractes auszuſprechen. Es ſteht dieß nicht in Wider- ſpruch mit §. 16, welcher ſtrenge die Verwechslung der Idee mit dem abſtracten Begriff ausſchließt, denn dort iſt die Rede vom Mittelpunct eines äſthetiſchen Ganzen, hier von Solchem, was nur als Moment im Verlaufe dieſes Ganzen auftritt. Natürlich muß ein ſolches, an ſich proſaiſches, Moment in ſichtbarem Zuſammenhang von Grund oder Folge mit dem
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[1186/0050]
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hier erſt Angedeutete in der Lehre von den Zweigen wieder aufzunehmen. —
Auch die Perſönlichkeit des Dichters iſt hier noch einmal in’s Auge zu
faſſen: was zu §. 385, §. 389 Anm. 2. §. 393, 2. als Bedingung der
Phantaſiethätigkeit überhaupt aufgeſtellt iſt: ein reiches Erfahrungsleben,
das gilt ebenfalls mit beſonderem Nachdruck dem Dichter. Da in ſeiner
Künſtlerhand alles Leben zum Seelenleben werden, da er die ganze Außen-
welt in’s Innere führen und wenden ſoll, ſo muß er mit dem ſcharfen
Auge der objectiven Anſchauung den lebendigſten Nerv der Theilnahme ver-
einigen und dieß kann er nicht, ohne in den Strudel des Lebens, das Meer
der Leidenſchaften und tiefſten Kämpfe ſelbſt hineingeriſſen zu werden. Weſſen
Bruſt das Leben nicht durchwühlt, wer nicht der Menſchheit ganzes Wohl
und Wehe erlebt hat, iſt kein Dichter. Es iſt nicht vorausgeſetzt, daß buch-
ſtäblich alles Schwerſte, Aufregendſte erlebt ſei, dem Dichter-Gemüthe kann zum
Himmel und zur Hölle werden, was Andere nur leicht anſtreift, aber genug
muß erlebt ſein, um ſich in jedes Glied der Kette menſchlicher Erfahrungen
lebendig verſetzen zu können. Um ſo ſtärker iſt aber auch die andere For-
derung feſtzuhalten: wer aus dem wühlenden Kampfe nicht geſammelt und
geläutert hervorgegangen iſt, der iſt auch kein Dichter, denn wir brauchen
nicht auf’s Neue zu beweiſen, daß das eigene Innere nicht mehr ſtoffartig
mit einer Leidenſchaft verwachſen ſein darf, wenn ſie zum künſtleriſchen Stoffe
werden ſoll. Shakespeare’s Sonette geben einen höchſt merkwürdigen Blick
in ein Gemüth, das von furchtbaren Kämpfen durchwühlt iſt, aber ſich mit
der ſtrengſten ethiſchen Kraft der Selbſtbeſtimmung daraus emporarbeitet
und Verjüngung aus dem trinkt, was Vernichtung drohte; Tieck hat dieß
im Dichterleben tiefſinnig verwendet und durch Zuſammenſtellung mit
R. Green und Marlowe dem Erhebungsprozeß Shakespeare’s die künſtleriſche
Folie gegeben. Ein durchaus normales Bild für den Satz, von dem es
ſich hier handelt, iſt auch Göthe’s Leben, namentlich die Entſtehung von
Werther’s Leiden, worauf ſchon in Anm. 2. zu §. 393 hingewieſen iſt.
2. Es iſt ausdrücklich hervorzuheben, daß die Dichtkunſt fähig und be-
rechtigt iſt, auch Abſtractes auszuſprechen. Es ſteht dieß nicht in Wider-
ſpruch mit §. 16, welcher ſtrenge die Verwechslung der Idee mit dem
abſtracten Begriff ausſchließt, denn dort iſt die Rede vom Mittelpunct eines
äſthetiſchen Ganzen, hier von Solchem, was nur als Moment im Verlaufe
dieſes Ganzen auftritt. Natürlich muß ein ſolches, an ſich proſaiſches,
Moment in ſichtbarem Zuſammenhang von Grund oder Folge mit dem
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/50>, abgerufen am 21.11.2024.
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