Das Häßliche ist, wie wir gesehen haben, da, wo alle Kunstmittel vorhanden sind, es aufzulösen, nicht blos zugelassen, sondern es wird her- beigerufen, die Kunst muß es wollen. Das Häßliche ist nur die Spitze einer Formenwelt, welche in ihren niedrigeren Graden blos abweichend vom rein entwickelten Normaltypus einer Gattung, unregelmäßig u. s. w. genannt wird. Es geht nun in der Poesie der Zug der Auffassungsweise nothwen- dig dahin, daß nicht die einzelne Gestalt im Sinne des Normaltypus schön sei, sondern das Schöne aus einer Gesammtwirkung entspringe, worin mehr oder minder unregelmäßige, vom Maaßstab ihrer Gattung mit mehr oder minder Eigenheit bis zur Empörung des Häßlichen abweichende Erscheinungen zusammentreten. Der Grund davon ist zunächst ebenderselbe wie in der Malerei: die Mitaufnahme des die Hauptgestalten Umgebenden, die über- leitende, dämpfende Farbe, die freie Einführung einer Vielheit von Gestalten, das Vorwiegen des Ausdrucks über die Form: alles dieß zieht so zu sagen an der einzelnen Gestalt, lockert die Selbständigkeit der ästhetischen Geltung, auf, die ihr in der Götterbildenden Plastik zukommt, und verändert den festen Körper des Schönen in ein ergossenes Fluidum, seinen Buchstaben in einen Geist, der zwischen den Zeilen zu lesen ist. Erwägt man nun, daß in der Poesie alle jene Momente sich nicht nur unendlich erwei- tern, sondern daß noch das wirkliche Fortrücken, die Zeitform hinzu- kommt, so kann kein Zweifel sein, daß eine so geistig bewegte Kunst die Würze des Umwegs durch das Indirecte dem geraden Wege des Schönen vorzieht. Hier wird der Strahl der Schönheit aus einer Gährung auf- blitzen, in welcher die reine Schönheitslinie nicht gefordert ist, der Gott wird seine Marmorschönheit opfern und wenn tiefe Seelen-Conflicte seine Gestalt zerfurchen, so wird das klar gesprochene Wort diese Furchen deuten. Der Einzelne wird Glied in der Kette einer Handlung mit weitem, Natur und Geschichte umfassendem Horizonte werden, der Stempel des tief und allseitig Durcharbeiteten wird sich daher seiner Erscheinung aufdrücken, wie sie vor unserem innern Auge vorüberzieht. Trotzdem wird das Prinzip der directen Idealisirung von dem der indirecten in der Poesie nicht nur nicht schlechthin unterdrückt sein, wie ja dieß auch in der Malerei nicht der Fall ist (vergl. §. 657), sondern es wird unter der Herrschaft desselben noch ein ungleich größeres Recht fortbehaupten, als in dieser Kunst. Zum Beweise ziehen wir aus der Geschichte beider Künste die einfache Thatsache herbei, daß Homer unzweifelhaft ganz Dichter ist, während der Malerei der Alten spezifische Eigenschaften fehlen, welche zum vollen Begriffe dieser Kunst gehören. Das Stylprinzip in beiden ist hier das direct ideale, die Malerei aber leidet darunter, die Poesie nicht. Hätte jene das Helldunkel, die Dimension der Tiefe, die figurenreichere Composition und die Vielseitigkeit des Ausdrucks entwickelt, wie das innere Wesen der Malerei dahin drängt,
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 77
Das Häßliche iſt, wie wir geſehen haben, da, wo alle Kunſtmittel vorhanden ſind, es aufzulöſen, nicht blos zugelaſſen, ſondern es wird her- beigerufen, die Kunſt muß es wollen. Das Häßliche iſt nur die Spitze einer Formenwelt, welche in ihren niedrigeren Graden blos abweichend vom rein entwickelten Normaltypus einer Gattung, unregelmäßig u. ſ. w. genannt wird. Es geht nun in der Poeſie der Zug der Auffaſſungsweiſe nothwen- dig dahin, daß nicht die einzelne Geſtalt im Sinne des Normaltypus ſchön ſei, ſondern das Schöne aus einer Geſammtwirkung entſpringe, worin mehr oder minder unregelmäßige, vom Maaßſtab ihrer Gattung mit mehr oder minder Eigenheit bis zur Empörung des Häßlichen abweichende Erſcheinungen zuſammentreten. Der Grund davon iſt zunächſt ebenderſelbe wie in der Malerei: die Mitaufnahme des die Hauptgeſtalten Umgebenden, die über- leitende, dämpfende Farbe, die freie Einführung einer Vielheit von Geſtalten, das Vorwiegen des Ausdrucks über die Form: alles dieß zieht ſo zu ſagen an der einzelnen Geſtalt, lockert die Selbſtändigkeit der äſthetiſchen Geltung, auf, die ihr in der Götterbildenden Plaſtik zukommt, und verändert den feſten Körper des Schönen in ein ergoſſenes Fluidum, ſeinen Buchſtaben in einen Geiſt, der zwiſchen den Zeilen zu leſen iſt. Erwägt man nun, daß in der Poeſie alle jene Momente ſich nicht nur unendlich erwei- tern, ſondern daß noch das wirkliche Fortrücken, die Zeitform hinzu- kommt, ſo kann kein Zweifel ſein, daß eine ſo geiſtig bewegte Kunſt die Würze des Umwegs durch das Indirecte dem geraden Wege des Schönen vorzieht. Hier wird der Strahl der Schönheit aus einer Gährung auf- blitzen, in welcher die reine Schönheitslinie nicht gefordert iſt, der Gott wird ſeine Marmorſchönheit opfern und wenn tiefe Seelen-Conflicte ſeine Geſtalt zerfurchen, ſo wird das klar geſprochene Wort dieſe Furchen deuten. Der Einzelne wird Glied in der Kette einer Handlung mit weitem, Natur und Geſchichte umfaſſendem Horizonte werden, der Stempel des tief und allſeitig Durcharbeiteten wird ſich daher ſeiner Erſcheinung aufdrücken, wie ſie vor unſerem innern Auge vorüberzieht. Trotzdem wird das Prinzip der directen Idealiſirung von dem der indirecten in der Poeſie nicht nur nicht ſchlechthin unterdrückt ſein, wie ja dieß auch in der Malerei nicht der Fall iſt (vergl. §. 657), ſondern es wird unter der Herrſchaft deſſelben noch ein ungleich größeres Recht fortbehaupten, als in dieſer Kunſt. Zum Beweiſe ziehen wir aus der Geſchichte beider Künſte die einfache Thatſache herbei, daß Homer unzweifelhaft ganz Dichter iſt, während der Malerei der Alten ſpezifiſche Eigenſchaften fehlen, welche zum vollen Begriffe dieſer Kunſt gehören. Das Stylprinzip in beiden iſt hier das direct ideale, die Malerei aber leidet darunter, die Poeſie nicht. Hätte jene das Helldunkel, die Dimenſion der Tiefe, die figurenreichere Compoſition und die Vielſeitigkeit des Ausdrucks entwickelt, wie das innere Weſen der Malerei dahin drängt,
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 77
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Das Häßliche iſt, wie wir geſehen haben, da, wo alle Kunſtmittel
vorhanden ſind, es aufzulöſen, nicht blos zugelaſſen, ſondern es wird her-
beigerufen, die Kunſt muß es wollen. Das Häßliche iſt nur die Spitze
einer Formenwelt, welche in ihren niedrigeren Graden blos abweichend vom
rein entwickelten Normaltypus einer Gattung, unregelmäßig u. ſ. w. genannt
wird. Es geht nun in der Poeſie der Zug der Auffaſſungsweiſe nothwen-
dig dahin, daß nicht die einzelne Geſtalt im Sinne des Normaltypus ſchön
ſei, ſondern das Schöne aus einer Geſammtwirkung entſpringe, worin mehr
oder minder unregelmäßige, vom Maaßſtab ihrer Gattung mit mehr oder
minder Eigenheit bis zur Empörung des Häßlichen abweichende Erſcheinungen
zuſammentreten. Der Grund davon iſt zunächſt ebenderſelbe wie in der
Malerei: die Mitaufnahme des die Hauptgeſtalten Umgebenden, die über-
leitende, dämpfende Farbe, die freie Einführung einer Vielheit von Geſtalten,
das Vorwiegen des Ausdrucks über die Form: alles dieß zieht ſo zu ſagen
an der einzelnen Geſtalt, lockert die Selbſtändigkeit der äſthetiſchen Geltung,
auf, die ihr in der Götterbildenden Plaſtik zukommt, und verändert den
feſten Körper des Schönen in ein ergoſſenes Fluidum, ſeinen Buchſtaben
in einen Geiſt, der zwiſchen den Zeilen zu leſen iſt. Erwägt man nun,
daß in der Poeſie alle jene Momente ſich nicht nur unendlich erwei-
tern, ſondern daß noch das wirkliche Fortrücken, die Zeitform hinzu-
kommt, ſo kann kein Zweifel ſein, daß eine ſo geiſtig bewegte Kunſt die
Würze des Umwegs durch das Indirecte dem geraden Wege des Schönen
vorzieht. Hier wird der Strahl der Schönheit aus einer Gährung auf-
blitzen, in welcher die reine Schönheitslinie nicht gefordert iſt, der Gott
wird ſeine Marmorſchönheit opfern und wenn tiefe Seelen-Conflicte ſeine
Geſtalt zerfurchen, ſo wird das klar geſprochene Wort dieſe Furchen deuten.
Der Einzelne wird Glied in der Kette einer Handlung mit weitem, Natur
und Geſchichte umfaſſendem Horizonte werden, der Stempel des tief und
allſeitig Durcharbeiteten wird ſich daher ſeiner Erſcheinung aufdrücken, wie
ſie vor unſerem innern Auge vorüberzieht. Trotzdem wird das Prinzip der
directen Idealiſirung von dem der indirecten in der Poeſie nicht nur nicht
ſchlechthin unterdrückt ſein, wie ja dieß auch in der Malerei nicht der Fall
iſt (vergl. §. 657), ſondern es wird unter der Herrſchaft deſſelben noch ein
ungleich größeres Recht fortbehaupten, als in dieſer Kunſt. Zum Beweiſe
ziehen wir aus der Geſchichte beider Künſte die einfache Thatſache herbei,
daß Homer unzweifelhaft ganz Dichter iſt, während der Malerei der Alten
ſpezifiſche Eigenſchaften fehlen, welche zum vollen Begriffe dieſer Kunſt
gehören. Das Stylprinzip in beiden iſt hier das direct ideale, die Malerei
aber leidet darunter, die Poeſie nicht. Hätte jene das Helldunkel, die
Dimenſion der Tiefe, die figurenreichere Compoſition und die Vielſeitigkeit
des Ausdrucks entwickelt, wie das innere Weſen der Malerei dahin drängt,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/55>, abgerufen am 16.02.2025.
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