so hätte sie charakteristisch, individualisirend werden müssen, die Poesie da- gegen entfaltete ihre sämmtlichen Mittel und konnte doch plastisch schön bleiben, so daß ein Thersites einsam im Saale der Homerischen Statuen wandelt. Es scheint auffallend, daß eine Kunst, in welcher das Salz der Negativität im Verhältnisse zwischen Ausdruck und Form noch um so viel stärker ist, als in der Malerei, daß die Poesie doch in den Grenzen einer prinzipiellen Auffassung, welcher diese Negativität fremd ist, auf dem Boden einer einfach ruhigen Harmonie zwischen Ausdruck und Form eine so viel unzweifelhaftere, den spezifischen Bedingungen des bestimm- ten Kunstgebiets entsprechende ebenbürtige Welt der Schönheit schaffen kann. Es erklärt sich aber diese Erscheinung einmal daraus, daß in der Poesie die Farbe kein so wesentliches Moment ist, wie in der Malerei, daß jene vielmehr leichter, als diese, dem Formgefühle wieder ein gewisses Ueberge- wicht über das Farbgefühl geben kann. Die Farbe in ihrer Ausbildung zu einer gesättigten Welt unendlicher Uebergänge, Durchkreuzungen von Licht und Dunkel ist es vorzüglich, was den Accent auf eine Art des Aus- drucks wirft, die einen gewissen Bruch zwischen dem Innern und Aeußern voraussetzt, was die Kräfte, Eigenschaften, Beziehungen jedes Wesens zur Außenwelt so reich spezialisirt, daß die einfachere Grundlinie der Schönheit, welche auf naturvolle Harmonie des Gemüthslebens weist, in dieser Kunst zu matt, zu uninteressant erscheint. Die Gebilde, welche die Dichtung vor unsere Phantasie führt, haben nun allerdings auch Farbe, über Homer's Welt wölbt sich der tiefblaue Himmel des Südens und glänzt alles Leben im glühenden Sonnenlichte. Allein wenn alle Züge der Erscheinung, wie sie nur der innerlichen Sinnlichkeit vorschwebt, unbestimmter werden, so gilt dieß doch mehr von der Farbe, als vom Umriß; dieser zeichnet sich deutlicher und schärfer vor das Auge der Einbildungskraft, weil er Linie ist. Es ist doch ungleich mehr Umriß- als Farben-Freude, was wir bei Homer's Gebilden als Objecten des inneren Sehens genießen. Die Poesie bleibt daher weniger, als die Malerei, hinter den Bedingungen ihrer spezifischen Kunstform zurück, wenn sie die Zeichnung über die Farbe herrschen läßt; die Zeichnung führt aber als das plastische Element mehr dem Prinzip der directen Idealisirung zu. Dieß ist aber noch nicht die ganze Begründung; zunächst ist das Element Bewegung noch in Betracht zu ziehen. Dieselbe geht in der Dichtkunst, wiewohl nur innerlich geschaut, doch wirklich vor sich, wie in keiner bildenden Kunst. Sie hat ihr eigenes Reich der Schön- heit in der Welle der Anmuth; ihm steht eine andere Welt von Bewegungen gegenüber, welche wir gebrochene nennen können und welche auf ein inneres Leben hinweisen, das aus der Einfalt ursprünglicher Harmonie des Seelen- lebens herausgetreten ist. Der Dichter, der sich des Vortheils erfreut, daß ihm wirklich bewegte Gestalten zu Gebote stehen, wird nun mit demselben
ſo hätte ſie charakteriſtiſch, individualiſirend werden müſſen, die Poeſie da- gegen entfaltete ihre ſämmtlichen Mittel und konnte doch plaſtiſch ſchön bleiben, ſo daß ein Therſites einſam im Saale der Homeriſchen Statuen wandelt. Es ſcheint auffallend, daß eine Kunſt, in welcher das Salz der Negativität im Verhältniſſe zwiſchen Ausdruck und Form noch um ſo viel ſtärker iſt, als in der Malerei, daß die Poeſie doch in den Grenzen einer prinzipiellen Auffaſſung, welcher dieſe Negativität fremd iſt, auf dem Boden einer einfach ruhigen Harmonie zwiſchen Ausdruck und Form eine ſo viel unzweifelhaftere, den ſpezifiſchen Bedingungen des beſtimm- ten Kunſtgebiets entſprechende ebenbürtige Welt der Schönheit ſchaffen kann. Es erklärt ſich aber dieſe Erſcheinung einmal daraus, daß in der Poeſie die Farbe kein ſo weſentliches Moment iſt, wie in der Malerei, daß jene vielmehr leichter, als dieſe, dem Formgefühle wieder ein gewiſſes Ueberge- wicht über das Farbgefühl geben kann. Die Farbe in ihrer Ausbildung zu einer geſättigten Welt unendlicher Uebergänge, Durchkreuzungen von Licht und Dunkel iſt es vorzüglich, was den Accent auf eine Art des Aus- drucks wirft, die einen gewiſſen Bruch zwiſchen dem Innern und Aeußern vorausſetzt, was die Kräfte, Eigenſchaften, Beziehungen jedes Weſens zur Außenwelt ſo reich ſpezialiſirt, daß die einfachere Grundlinie der Schönheit, welche auf naturvolle Harmonie des Gemüthslebens weist, in dieſer Kunſt zu matt, zu unintereſſant erſcheint. Die Gebilde, welche die Dichtung vor unſere Phantaſie führt, haben nun allerdings auch Farbe, über Homer’s Welt wölbt ſich der tiefblaue Himmel des Südens und glänzt alles Leben im glühenden Sonnenlichte. Allein wenn alle Züge der Erſcheinung, wie ſie nur der innerlichen Sinnlichkeit vorſchwebt, unbeſtimmter werden, ſo gilt dieß doch mehr von der Farbe, als vom Umriß; dieſer zeichnet ſich deutlicher und ſchärfer vor das Auge der Einbildungskraft, weil er Linie iſt. Es iſt doch ungleich mehr Umriß- als Farben-Freude, was wir bei Homer’s Gebilden als Objecten des inneren Sehens genießen. Die Poeſie bleibt daher weniger, als die Malerei, hinter den Bedingungen ihrer ſpezifiſchen Kunſtform zurück, wenn ſie die Zeichnung über die Farbe herrſchen läßt; die Zeichnung führt aber als das plaſtiſche Element mehr dem Prinzip der directen Idealiſirung zu. Dieß iſt aber noch nicht die ganze Begründung; zunächſt iſt das Element Bewegung noch in Betracht zu ziehen. Dieſelbe geht in der Dichtkunſt, wiewohl nur innerlich geſchaut, doch wirklich vor ſich, wie in keiner bildenden Kunſt. Sie hat ihr eigenes Reich der Schön- heit in der Welle der Anmuth; ihm ſteht eine andere Welt von Bewegungen gegenüber, welche wir gebrochene nennen können und welche auf ein inneres Leben hinweiſen, das aus der Einfalt urſprünglicher Harmonie des Seelen- lebens herausgetreten iſt. Der Dichter, der ſich des Vortheils erfreut, daß ihm wirklich bewegte Geſtalten zu Gebote ſtehen, wird nun mit demſelben
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[1192/0056]
ſo hätte ſie charakteriſtiſch, individualiſirend werden müſſen, die Poeſie da-
gegen entfaltete ihre ſämmtlichen Mittel und konnte doch plaſtiſch ſchön
bleiben, ſo daß ein Therſites einſam im Saale der Homeriſchen Statuen
wandelt. Es ſcheint auffallend, daß eine Kunſt, in welcher das Salz
der Negativität im Verhältniſſe zwiſchen Ausdruck und Form noch um
ſo viel ſtärker iſt, als in der Malerei, daß die Poeſie doch in den
Grenzen einer prinzipiellen Auffaſſung, welcher dieſe Negativität fremd iſt,
auf dem Boden einer einfach ruhigen Harmonie zwiſchen Ausdruck und
Form eine ſo viel unzweifelhaftere, den ſpezifiſchen Bedingungen des beſtimm-
ten Kunſtgebiets entſprechende ebenbürtige Welt der Schönheit ſchaffen kann.
Es erklärt ſich aber dieſe Erſcheinung einmal daraus, daß in der Poeſie
die Farbe kein ſo weſentliches Moment iſt, wie in der Malerei, daß jene
vielmehr leichter, als dieſe, dem Formgefühle wieder ein gewiſſes Ueberge-
wicht über das Farbgefühl geben kann. Die Farbe in ihrer Ausbildung
zu einer geſättigten Welt unendlicher Uebergänge, Durchkreuzungen von
Licht und Dunkel iſt es vorzüglich, was den Accent auf eine Art des Aus-
drucks wirft, die einen gewiſſen Bruch zwiſchen dem Innern und Aeußern
vorausſetzt, was die Kräfte, Eigenſchaften, Beziehungen jedes Weſens zur
Außenwelt ſo reich ſpezialiſirt, daß die einfachere Grundlinie der Schönheit,
welche auf naturvolle Harmonie des Gemüthslebens weist, in dieſer Kunſt
zu matt, zu unintereſſant erſcheint. Die Gebilde, welche die Dichtung vor
unſere Phantaſie führt, haben nun allerdings auch Farbe, über Homer’s
Welt wölbt ſich der tiefblaue Himmel des Südens und glänzt alles Leben
im glühenden Sonnenlichte. Allein wenn alle Züge der Erſcheinung, wie
ſie nur der innerlichen Sinnlichkeit vorſchwebt, unbeſtimmter werden, ſo gilt
dieß doch mehr von der Farbe, als vom Umriß; dieſer zeichnet ſich deutlicher
und ſchärfer vor das Auge der Einbildungskraft, weil er Linie iſt. Es
iſt doch ungleich mehr Umriß- als Farben-Freude, was wir bei Homer’s
Gebilden als Objecten des inneren Sehens genießen. Die Poeſie bleibt
daher weniger, als die Malerei, hinter den Bedingungen ihrer ſpezifiſchen
Kunſtform zurück, wenn ſie die Zeichnung über die Farbe herrſchen läßt;
die Zeichnung führt aber als das plaſtiſche Element mehr dem Prinzip der
directen Idealiſirung zu. Dieß iſt aber noch nicht die ganze Begründung;
zunächſt iſt das Element Bewegung noch in Betracht zu ziehen. Dieſelbe
geht in der Dichtkunſt, wiewohl nur innerlich geſchaut, doch wirklich vor
ſich, wie in keiner bildenden Kunſt. Sie hat ihr eigenes Reich der Schön-
heit in der Welle der Anmuth; ihm ſteht eine andere Welt von Bewegungen
gegenüber, welche wir gebrochene nennen können und welche auf ein inneres
Leben hinweiſen, das aus der Einfalt urſprünglicher Harmonie des Seelen-
lebens herausgetreten iſt. Der Dichter, der ſich des Vortheils erfreut, daß
ihm wirklich bewegte Geſtalten zu Gebote ſtehen, wird nun mit demſelben
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/56>, abgerufen am 21.11.2024.
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