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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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ersten Ueberblick unter seiner Anleitung Theil für Theil in's Auge, ohne
Furcht, daß ihm die Zusammenfassung entgehe, denn das Ganze bleibt
ja im Raum fest vor ihm, und endlich gienge er dann zu dieser über, die
nun ein gefüllterer, durch Einzelbeobachtung vollkommenerer Act wäre, als
der erste Ueberblick. Er vergißt, daß er es mit einer bewegten Kraft zu
thun hat, welche nichts Festes vor sich hat, welche daher diesem Zuzählen
unter den Händen entschwebt, entweicht, indem sie, auf den ersten Schlag
schon mit ihrem Bilde fertig, bei dem Aufreihen der folgenden schon über
Berg und Thal ist, daß sie, während vornen zuwächst, hinten verliert,
daher schließlich nichts übrig hat, was sie zusammenfassen könnte, so daß
es ist, "als sähe man Steine auf einen Berg wälzen, aus welchen auf der
Spitze desselben ein prächtiges Gebäude aufgeführt werden soll, die aber
alle auf der andern Seite von selbst wieder herabrollen;" eine treffliche
Vergleichung Lessing's, nur daß die vernommenen Theile nicht nur, wie er
sagt, dem Ohre, sondern vielmehr der vorausgeeilten Phantasie, welche
durch das Ohr in Thätigkeit gerufen ist, verloren gehen. In der That kann
Jeder an sich die Erfahrung machen, daß Walter Scott's und seiner Nach-
ahmer breite, Zoll für Zoll, vom Wirbel zur Zehe fortrückende Schilderungen
gerade das Gegentheil ihrer Absicht bewirken, daß man nämlich nichts hat,
nichts sieht. Ja auch bei Beschreibungen für prosaische Zwecke ist unser
obiges Zugeständniß zu beschränken; bekanntlich ist es ohne Zeichnung sehr
schwer und peinlich, sich z. B. einen Schlachtbericht klar zu vergegenwärtigen.
Der Dichter hat also nicht eigentlich und schlechthin das Coexistirende in
ein Successives zu verwandeln, er kann uns Coexistirendes vorführen, obwohl
sein Vehikel nicht coexistirende Form hat, aber er muß es so thun, daß
er den bewegten Charakter der Phantasie berücksichtigt, er muß daher mit
wenigen Mitteln dem Leser oder Zuhörer nur den nöthigen Anstoß geben
und er muß das Räumliche, das er so schildert, an geschilderte Bewegung
knüpfen, denn die Phantasie, weil sie selbst bewegt ist, will Solches sehen,
was sich bewegt. Von jenen Mitteln, namentlich den Epitheten, ist weiterhin
in besonderem Zusammenhang zu sprechen, der gegenwärtige betont zunächst
nur, daß sie einfach sein müssen, nicht versuchen dürfen, ein ausführliches
Bild zu geben. Allzu ängstlich darf dieß allerdings nicht genommen werden
und es ist mehr einzuräumen, als das karge Maaß von den Bezeichnungen,
welche Lessing (a. a. O. Cap. 18) zuläßt; wenn nur die Grundbedingung,
das Hereinziehen in den Bewegungsstrom der Phantasie, erfüllt ist. Zunächst
geschieht dieß dadurch, daß die Gegenstände als bewegte im eigentlichen Sinne
des Worts zur Darstellung gebracht werden; Lessing zeigt, wie Homer die
Kleider und Waffen Agamemnons schildert, indem er sie ihn anlegen, den
Wagen der Juno, das Scepter des Agamemnon und Achilles, den Bogen
des Pandarus, den Schild des Achilles, indem er sie vor unsern Augen

erſten Ueberblick unter ſeiner Anleitung Theil für Theil in’s Auge, ohne
Furcht, daß ihm die Zuſammenfaſſung entgehe, denn das Ganze bleibt
ja im Raum feſt vor ihm, und endlich gienge er dann zu dieſer über, die
nun ein gefüllterer, durch Einzelbeobachtung vollkommenerer Act wäre, als
der erſte Ueberblick. Er vergißt, daß er es mit einer bewegten Kraft zu
thun hat, welche nichts Feſtes vor ſich hat, welche daher dieſem Zuzählen
unter den Händen entſchwebt, entweicht, indem ſie, auf den erſten Schlag
ſchon mit ihrem Bilde fertig, bei dem Aufreihen der folgenden ſchon über
Berg und Thal iſt, daß ſie, während vornen zuwächst, hinten verliert,
daher ſchließlich nichts übrig hat, was ſie zuſammenfaſſen könnte, ſo daß
es iſt, „als ſähe man Steine auf einen Berg wälzen, aus welchen auf der
Spitze deſſelben ein prächtiges Gebäude aufgeführt werden ſoll, die aber
alle auf der andern Seite von ſelbſt wieder herabrollen;“ eine treffliche
Vergleichung Leſſing’s, nur daß die vernommenen Theile nicht nur, wie er
ſagt, dem Ohre, ſondern vielmehr der vorausgeeilten Phantaſie, welche
durch das Ohr in Thätigkeit gerufen iſt, verloren gehen. In der That kann
Jeder an ſich die Erfahrung machen, daß Walter Scott’s und ſeiner Nach-
ahmer breite, Zoll für Zoll, vom Wirbel zur Zehe fortrückende Schilderungen
gerade das Gegentheil ihrer Abſicht bewirken, daß man nämlich nichts hat,
nichts ſieht. Ja auch bei Beſchreibungen für proſaiſche Zwecke iſt unſer
obiges Zugeſtändniß zu beſchränken; bekanntlich iſt es ohne Zeichnung ſehr
ſchwer und peinlich, ſich z. B. einen Schlachtbericht klar zu vergegenwärtigen.
Der Dichter hat alſo nicht eigentlich und ſchlechthin das Coexiſtirende in
ein Succeſſives zu verwandeln, er kann uns Coexiſtirendes vorführen, obwohl
ſein Vehikel nicht coexiſtirende Form hat, aber er muß es ſo thun, daß
er den bewegten Charakter der Phantaſie berückſichtigt, er muß daher mit
wenigen Mitteln dem Leſer oder Zuhörer nur den nöthigen Anſtoß geben
und er muß das Räumliche, das er ſo ſchildert, an geſchilderte Bewegung
knüpfen, denn die Phantaſie, weil ſie ſelbſt bewegt iſt, will Solches ſehen,
was ſich bewegt. Von jenen Mitteln, namentlich den Epitheten, iſt weiterhin
in beſonderem Zuſammenhang zu ſprechen, der gegenwärtige betont zunächſt
nur, daß ſie einfach ſein müſſen, nicht verſuchen dürfen, ein ausführliches
Bild zu geben. Allzu ängſtlich darf dieß allerdings nicht genommen werden
und es iſt mehr einzuräumen, als das karge Maaß von den Bezeichnungen,
welche Leſſing (a. a. O. Cap. 18) zuläßt; wenn nur die Grundbedingung,
das Hereinziehen in den Bewegungsſtrom der Phantaſie, erfüllt iſt. Zunächſt
geſchieht dieß dadurch, daß die Gegenſtände als bewegte im eigentlichen Sinne
des Worts zur Darſtellung gebracht werden; Leſſing zeigt, wie Homer die
Kleider und Waffen Agamemnons ſchildert, indem er ſie ihn anlegen, den
Wagen der Juno, das Scepter des Agamemnon und Achilles, den Bogen
des Pandarus, den Schild des Achilles, indem er ſie vor unſern Augen

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[1202/0066] erſten Ueberblick unter ſeiner Anleitung Theil für Theil in’s Auge, ohne Furcht, daß ihm die Zuſammenfaſſung entgehe, denn das Ganze bleibt ja im Raum feſt vor ihm, und endlich gienge er dann zu dieſer über, die nun ein gefüllterer, durch Einzelbeobachtung vollkommenerer Act wäre, als der erſte Ueberblick. Er vergißt, daß er es mit einer bewegten Kraft zu thun hat, welche nichts Feſtes vor ſich hat, welche daher dieſem Zuzählen unter den Händen entſchwebt, entweicht, indem ſie, auf den erſten Schlag ſchon mit ihrem Bilde fertig, bei dem Aufreihen der folgenden ſchon über Berg und Thal iſt, daß ſie, während vornen zuwächst, hinten verliert, daher ſchließlich nichts übrig hat, was ſie zuſammenfaſſen könnte, ſo daß es iſt, „als ſähe man Steine auf einen Berg wälzen, aus welchen auf der Spitze deſſelben ein prächtiges Gebäude aufgeführt werden ſoll, die aber alle auf der andern Seite von ſelbſt wieder herabrollen;“ eine treffliche Vergleichung Leſſing’s, nur daß die vernommenen Theile nicht nur, wie er ſagt, dem Ohre, ſondern vielmehr der vorausgeeilten Phantaſie, welche durch das Ohr in Thätigkeit gerufen iſt, verloren gehen. In der That kann Jeder an ſich die Erfahrung machen, daß Walter Scott’s und ſeiner Nach- ahmer breite, Zoll für Zoll, vom Wirbel zur Zehe fortrückende Schilderungen gerade das Gegentheil ihrer Abſicht bewirken, daß man nämlich nichts hat, nichts ſieht. Ja auch bei Beſchreibungen für proſaiſche Zwecke iſt unſer obiges Zugeſtändniß zu beſchränken; bekanntlich iſt es ohne Zeichnung ſehr ſchwer und peinlich, ſich z. B. einen Schlachtbericht klar zu vergegenwärtigen. Der Dichter hat alſo nicht eigentlich und ſchlechthin das Coexiſtirende in ein Succeſſives zu verwandeln, er kann uns Coexiſtirendes vorführen, obwohl ſein Vehikel nicht coexiſtirende Form hat, aber er muß es ſo thun, daß er den bewegten Charakter der Phantaſie berückſichtigt, er muß daher mit wenigen Mitteln dem Leſer oder Zuhörer nur den nöthigen Anſtoß geben und er muß das Räumliche, das er ſo ſchildert, an geſchilderte Bewegung knüpfen, denn die Phantaſie, weil ſie ſelbſt bewegt iſt, will Solches ſehen, was ſich bewegt. Von jenen Mitteln, namentlich den Epitheten, iſt weiterhin in beſonderem Zuſammenhang zu ſprechen, der gegenwärtige betont zunächſt nur, daß ſie einfach ſein müſſen, nicht verſuchen dürfen, ein ausführliches Bild zu geben. Allzu ängſtlich darf dieß allerdings nicht genommen werden und es iſt mehr einzuräumen, als das karge Maaß von den Bezeichnungen, welche Leſſing (a. a. O. Cap. 18) zuläßt; wenn nur die Grundbedingung, das Hereinziehen in den Bewegungsſtrom der Phantaſie, erfüllt iſt. Zunächſt geſchieht dieß dadurch, daß die Gegenſtände als bewegte im eigentlichen Sinne des Worts zur Darſtellung gebracht werden; Leſſing zeigt, wie Homer die Kleider und Waffen Agamemnons ſchildert, indem er ſie ihn anlegen, den Wagen der Juno, das Scepter des Agamemnon und Achilles, den Bogen des Pandarus, den Schild des Achilles, indem er ſie vor unſern Augen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/66>, abgerufen am 24.11.2024.