Classischen entnommen ist, wie er nicht nur dem Besten und Vollkommen- sten, sondern in engerer Bedeutung dem Style gegeben wird, der auf jenem Prinzip der directen Idealisirung ruht, nach welchem die einzelne Gestalt schön sein soll. Auch in der Malerei nennt man die entsprechende Richtung die classische, die classicirende; man bemerke aber dabei wohl, daß dieser Styl hier seine Muster nicht eigentlich in den Werken der Alten auf demselben Kunstgebiete, vielmehr auf dem einer andern Kunst, der Sculptur, hat, wogegen die classisch fühlende, zeichnende, componirende Richtung in der Poesie ihre Vorbilder eben in den alten Meistern derselben Kunst findet und der verwandte Charakter der Bildnerkunst nur zur näheren Belehrung über ihr Wesen beizuziehen ist. Die Bezeichnung trifft daher noch weit enger zu, wenn man (unter den nöthigen Einschränkungen) die Dichtung der romanischen Völker, unter den Deutschen Göthe's und Schiller's im Gegensatze vorzüglich gegen Shakespeare, die classicirende nennt, als wenn man den älteren und jüngeren Akademikern der Malerei in Frankreich, den Carstens und Wächter in Deutschland diesen Namen gibt. Die durchschlagende Bezeichnung classisch und romantisch, wie sie nicht nur einen geschichtlich da- gewesenen, sondern bleibenden Unterschied der Auffassung im Auge hat, ist im Gebiete der Poesie aufgekommen, der große Gegensatz der Style hier früher, ausdrücklicher, tiefer erkannt worden, als auf allen andern Kunst- gebieten: natürlich, weil der geistigsten Kunst ein ausgesprochneres Bewußt- sein ihrer Gesetze, eine ausgebildetere Kritik zur Seite geht. Seit dem Kampfe gegen Gotsched dreht sich Alles um diese Angel, Shakespeare ist der Name, in welchem man Alles zusammenfaßt, was man unter dem naturalistischen und individualisirenden Style begreift. Um was es sich eigentlich handelt, kann man sich auf empirischem Weg am besten veran- schaulichen, wenn man deutlich das Schwanken zwischen zwei Stylen in Göthe's Egmont beobachtet, wenn man in Schiller's Wallenstein genau unterscheidet, wo unter dem Einflusse des großen Britten die gesättigte Farbe der vollen Lebenswahrheit und wo dagegen die generalisirende Allge- meinheit des Idealismus durchdringt, wenn man die Aeußerung von Ger- vinus über Schiller's Charaktere: sie halten sich in einer Mitte zwischen der typischen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare (Neuere Gesch. d. poet. Nat.-Lit. d. Deutsch. Th. 2. S. 506) wohl überlegt. Letztere ist zwar nicht ganz richtig; diese Mitte suchen wir erst, sie ist das Ziel unserer Poesie, aber das Wort gibt viel zu denken. -- Der §. faßt in Kürze die schon in früheren Abschnitten mehrfach besprochenen Grundzüge beider Style noch einmal zusammen und hebt als neuen Zug nur die kühnere Mischung des Ernsten und Komischen hervor; jede weitere Auseinandersetzung an der gegenwärtigen Stelle wäre zweckwidrig, weil in der Folge der große Unter- schied, von dem es sich handelt, auf allen Hauptpuncten hervortritt und
Claſſiſchen entnommen iſt, wie er nicht nur dem Beſten und Vollkommen- ſten, ſondern in engerer Bedeutung dem Style gegeben wird, der auf jenem Prinzip der directen Idealiſirung ruht, nach welchem die einzelne Geſtalt ſchön ſein ſoll. Auch in der Malerei nennt man die entſprechende Richtung die claſſiſche, die claſſicirende; man bemerke aber dabei wohl, daß dieſer Styl hier ſeine Muſter nicht eigentlich in den Werken der Alten auf demſelben Kunſtgebiete, vielmehr auf dem einer andern Kunſt, der Sculptur, hat, wogegen die claſſiſch fühlende, zeichnende, componirende Richtung in der Poeſie ihre Vorbilder eben in den alten Meiſtern derſelben Kunſt findet und der verwandte Charakter der Bildnerkunſt nur zur näheren Belehrung über ihr Weſen beizuziehen iſt. Die Bezeichnung trifft daher noch weit enger zu, wenn man (unter den nöthigen Einſchränkungen) die Dichtung der romaniſchen Völker, unter den Deutſchen Göthe’s und Schiller’s im Gegenſatze vorzüglich gegen Shakespeare, die claſſicirende nennt, als wenn man den älteren und jüngeren Akademikern der Malerei in Frankreich, den Carſtens und Wächter in Deutſchland dieſen Namen gibt. Die durchſchlagende Bezeichnung claſſiſch und romantiſch, wie ſie nicht nur einen geſchichtlich da- geweſenen, ſondern bleibenden Unterſchied der Auffaſſung im Auge hat, iſt im Gebiete der Poeſie aufgekommen, der große Gegenſatz der Style hier früher, ausdrücklicher, tiefer erkannt worden, als auf allen andern Kunſt- gebieten: natürlich, weil der geiſtigſten Kunſt ein ausgeſprochneres Bewußt- ſein ihrer Geſetze, eine ausgebildetere Kritik zur Seite geht. Seit dem Kampfe gegen Gotſched dreht ſich Alles um dieſe Angel, Shakespeare iſt der Name, in welchem man Alles zuſammenfaßt, was man unter dem naturaliſtiſchen und individualiſirenden Style begreift. Um was es ſich eigentlich handelt, kann man ſich auf empiriſchem Weg am beſten veran- ſchaulichen, wenn man deutlich das Schwanken zwiſchen zwei Stylen in Göthe’s Egmont beobachtet, wenn man in Schiller’s Wallenſtein genau unterſcheidet, wo unter dem Einfluſſe des großen Britten die geſättigte Farbe der vollen Lebenswahrheit und wo dagegen die generaliſirende Allge- meinheit des Idealiſmus durchdringt, wenn man die Aeußerung von Ger- vinus über Schiller’s Charaktere: ſie halten ſich in einer Mitte zwiſchen der typiſchen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare (Neuere Geſch. d. poet. Nat.-Lit. d. Deutſch. Th. 2. S. 506) wohl überlegt. Letztere iſt zwar nicht ganz richtig; dieſe Mitte ſuchen wir erſt, ſie iſt das Ziel unſerer Poeſie, aber das Wort gibt viel zu denken. — Der §. faßt in Kürze die ſchon in früheren Abſchnitten mehrfach beſprochenen Grundzüge beider Style noch einmal zuſammen und hebt als neuen Zug nur die kühnere Miſchung des Ernſten und Komiſchen hervor; jede weitere Auseinanderſetzung an der gegenwärtigen Stelle wäre zweckwidrig, weil in der Folge der große Unter- ſchied, von dem es ſich handelt, auf allen Hauptpuncten hervortritt und
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Claſſiſchen entnommen iſt, wie er nicht nur dem Beſten und Vollkommen-
ſten, ſondern in engerer Bedeutung dem Style gegeben wird, der auf
jenem Prinzip der directen Idealiſirung ruht, nach welchem die einzelne
Geſtalt ſchön ſein ſoll. Auch in der Malerei nennt man die entſprechende
Richtung die claſſiſche, die claſſicirende; man bemerke aber dabei wohl, daß
dieſer Styl hier ſeine Muſter nicht eigentlich in den Werken der Alten auf
demſelben Kunſtgebiete, vielmehr auf dem einer andern Kunſt, der Sculptur,
hat, wogegen die claſſiſch fühlende, zeichnende, componirende Richtung in
der Poeſie ihre Vorbilder eben in den alten Meiſtern derſelben Kunſt findet
und der verwandte Charakter der Bildnerkunſt nur zur näheren Belehrung
über ihr Weſen beizuziehen iſt. Die Bezeichnung trifft daher noch weit
enger zu, wenn man (unter den nöthigen Einſchränkungen) die Dichtung
der romaniſchen Völker, unter den Deutſchen Göthe’s und Schiller’s im
Gegenſatze vorzüglich gegen Shakespeare, die claſſicirende nennt, als wenn
man den älteren und jüngeren Akademikern der Malerei in Frankreich, den
Carſtens und Wächter in Deutſchland dieſen Namen gibt. Die durchſchlagende
Bezeichnung claſſiſch und romantiſch, wie ſie nicht nur einen geſchichtlich da-
geweſenen, ſondern bleibenden Unterſchied der Auffaſſung im Auge hat, iſt
im Gebiete der Poeſie aufgekommen, der große Gegenſatz der Style hier
früher, ausdrücklicher, tiefer erkannt worden, als auf allen andern Kunſt-
gebieten: natürlich, weil der geiſtigſten Kunſt ein ausgeſprochneres Bewußt-
ſein ihrer Geſetze, eine ausgebildetere Kritik zur Seite geht. Seit dem
Kampfe gegen Gotſched dreht ſich Alles um dieſe Angel, Shakespeare iſt
der Name, in welchem man Alles zuſammenfaßt, was man unter dem
naturaliſtiſchen und individualiſirenden Style begreift. Um was es ſich
eigentlich handelt, kann man ſich auf empiriſchem Weg am beſten veran-
ſchaulichen, wenn man deutlich das Schwanken zwiſchen zwei Stylen in
Göthe’s Egmont beobachtet, wenn man in Schiller’s Wallenſtein genau
unterſcheidet, wo unter dem Einfluſſe des großen Britten die geſättigte
Farbe der vollen Lebenswahrheit und wo dagegen die generaliſirende Allge-
meinheit des Idealiſmus durchdringt, wenn man die Aeußerung von Ger-
vinus über Schiller’s Charaktere: ſie halten ſich in einer Mitte zwiſchen
der typiſchen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare (Neuere
Geſch. d. poet. Nat.-Lit. d. Deutſch. Th. 2. S. 506) wohl überlegt. Letztere
iſt zwar nicht ganz richtig; dieſe Mitte ſuchen wir erſt, ſie iſt das Ziel unſerer
Poeſie, aber das Wort gibt viel zu denken. — Der §. faßt in Kürze die
ſchon in früheren Abſchnitten mehrfach beſprochenen Grundzüge beider Style
noch einmal zuſammen und hebt als neuen Zug nur die kühnere Miſchung
des Ernſten und Komiſchen hervor; jede weitere Auseinanderſetzung an der
gegenwärtigen Stelle wäre zweckwidrig, weil in der Folge der große Unter-
ſchied, von dem es ſich handelt, auf allen Hauptpuncten hervortritt und
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/76>, abgerufen am 21.11.2024.
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