Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Fleisch war hart, wie man es dort zu Lande liebt, aber
A. E. arbeitete mit guten Kieferwaffen munter zu
und half kräftig mit dem feurigen Veltliner nach, der
uns gar wohl that nach unserem Abenteuer. Ich
durfte ihn nicht stören in seinen Tischreden und hörte
denn geduldig weiter.

Er bewegte sich durch das Gebiet der verschiede¬
nen Künste. Zunächst kam die Poesie daran und zwar
das Drama, die Tragödie. Schiller's Tell fiel ihm
wieder ein und er sagte: "Wollen Sie dagegen eine
wahre Tragödie, das heißt eine solche, die den Kon¬
flikt der Konflikte, den des Menschen mit den Geistern,
behandelt? Eine Tragödie, die aus der Menschenge¬
schichte den wahren Inhalt destillirt hat? Eine Tra¬
gödie, aus der wir die echte Lehre vom Mitgefühl
mit dem armen Sterblichen entnehmen, die echte Hu¬
manität schöpfen sollen? Eine Tragödie, deren wahre
Bedeutung doch bis heute noch gröblich verkannt ist? Ich
kenne, darf ich sagen, die ganze Literatur über Shake¬
speare's Othello. Nirgends auch die blasse Spur von
Ahnung der eigentlichen Intention des tiefsinnigen
Dichters, zu deren Verständniß er uns doch einen so
deutlichen Wink gegeben hat! Was sagt denn Othello
im vierten Auftritt des dritten Akts zu Desdemona?
,Ich fühle Schmerz an meiner Stirne hier' und wie
erläutert er dieß deutlicher im vierten? ,Mich plagt
ein widerwärt'ger böser Schnupfen.' Beiher ist hier

Fleiſch war hart, wie man es dort zu Lande liebt, aber
A. E. arbeitete mit guten Kieferwaffen munter zu
und half kräftig mit dem feurigen Veltliner nach, der
uns gar wohl that nach unſerem Abenteuer. Ich
durfte ihn nicht ſtören in ſeinen Tiſchreden und hörte
denn geduldig weiter.

Er bewegte ſich durch das Gebiet der verſchiede¬
nen Künſte. Zunächſt kam die Poeſie daran und zwar
das Drama, die Tragödie. Schiller's Tell fiel ihm
wieder ein und er ſagte: „Wollen Sie dagegen eine
wahre Tragödie, das heißt eine ſolche, die den Kon¬
flikt der Konflikte, den des Menſchen mit den Geiſtern,
behandelt? Eine Tragödie, die aus der Menſchenge¬
ſchichte den wahren Inhalt deſtillirt hat? Eine Tra¬
gödie, aus der wir die echte Lehre vom Mitgefühl
mit dem armen Sterblichen entnehmen, die echte Hu¬
manität ſchöpfen ſollen? Eine Tragödie, deren wahre
Bedeutung doch bis heute noch gröblich verkannt iſt? Ich
kenne, darf ich ſagen, die ganze Literatur über Shake¬
ſpeare's Othello. Nirgends auch die blaſſe Spur von
Ahnung der eigentlichen Intention des tiefſinnigen
Dichters, zu deren Verſtändniß er uns doch einen ſo
deutlichen Wink gegeben hat! Was ſagt denn Othello
im vierten Auftritt des dritten Akts zu Desdemona?
‚Ich fühle Schmerz an meiner Stirne hier' und wie
erläutert er dieß deutlicher im vierten? ‚Mich plagt
ein widerwärt'ger böſer Schnupfen.‘ Beiher iſt hier

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0109" n="96"/>
Flei&#x017F;ch war hart, wie man es dort zu Lande liebt, aber<lb/>
A. E. arbeitete mit guten Kieferwaffen munter zu<lb/>
und half kräftig mit dem feurigen Veltliner nach, der<lb/>
uns gar wohl that nach un&#x017F;erem Abenteuer. Ich<lb/>
durfte ihn nicht &#x017F;tören in &#x017F;einen Ti&#x017F;chreden und hörte<lb/>
denn geduldig weiter.</p><lb/>
        <p>Er bewegte &#x017F;ich durch das Gebiet der ver&#x017F;chiede¬<lb/>
nen Kün&#x017F;te. Zunäch&#x017F;t kam die Poe&#x017F;ie daran und zwar<lb/>
das Drama, die Tragödie. Schiller's Tell fiel ihm<lb/>
wieder ein und er &#x017F;agte: &#x201E;Wollen Sie dagegen eine<lb/>
wahre Tragödie, das heißt eine &#x017F;olche, die den Kon¬<lb/>
flikt der Konflikte, den des Men&#x017F;chen mit den Gei&#x017F;tern,<lb/>
behandelt? Eine Tragödie, die aus der Men&#x017F;chenge¬<lb/>
&#x017F;chichte den wahren Inhalt de&#x017F;tillirt hat? Eine Tra¬<lb/>
gödie, aus der wir die echte Lehre vom Mitgefühl<lb/>
mit dem armen Sterblichen entnehmen, die echte Hu¬<lb/>
manität &#x017F;chöpfen &#x017F;ollen? Eine Tragödie, deren wahre<lb/>
Bedeutung doch bis heute noch gröblich verkannt i&#x017F;t? Ich<lb/>
kenne, darf ich &#x017F;agen, die ganze Literatur über Shake¬<lb/>
&#x017F;peare's Othello. Nirgends auch die bla&#x017F;&#x017F;e Spur von<lb/>
Ahnung der eigentlichen Intention des tief&#x017F;innigen<lb/>
Dichters, zu deren Ver&#x017F;tändniß er uns doch einen &#x017F;o<lb/>
deutlichen Wink gegeben hat! Was &#x017F;agt denn Othello<lb/>
im vierten Auftritt des dritten Akts zu Desdemona?<lb/>
&#x201A;Ich fühle Schmerz an meiner Stirne hier' und wie<lb/>
erläutert er dieß deutlicher im vierten? &#x201A;Mich plagt<lb/>
ein widerwärt'ger bö&#x017F;er Schnupfen.&#x2018; Beiher i&#x017F;t hier<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[96/0109] Fleiſch war hart, wie man es dort zu Lande liebt, aber A. E. arbeitete mit guten Kieferwaffen munter zu und half kräftig mit dem feurigen Veltliner nach, der uns gar wohl that nach unſerem Abenteuer. Ich durfte ihn nicht ſtören in ſeinen Tiſchreden und hörte denn geduldig weiter. Er bewegte ſich durch das Gebiet der verſchiede¬ nen Künſte. Zunächſt kam die Poeſie daran und zwar das Drama, die Tragödie. Schiller's Tell fiel ihm wieder ein und er ſagte: „Wollen Sie dagegen eine wahre Tragödie, das heißt eine ſolche, die den Kon¬ flikt der Konflikte, den des Menſchen mit den Geiſtern, behandelt? Eine Tragödie, die aus der Menſchenge¬ ſchichte den wahren Inhalt deſtillirt hat? Eine Tra¬ gödie, aus der wir die echte Lehre vom Mitgefühl mit dem armen Sterblichen entnehmen, die echte Hu¬ manität ſchöpfen ſollen? Eine Tragödie, deren wahre Bedeutung doch bis heute noch gröblich verkannt iſt? Ich kenne, darf ich ſagen, die ganze Literatur über Shake¬ ſpeare's Othello. Nirgends auch die blaſſe Spur von Ahnung der eigentlichen Intention des tiefſinnigen Dichters, zu deren Verſtändniß er uns doch einen ſo deutlichen Wink gegeben hat! Was ſagt denn Othello im vierten Auftritt des dritten Akts zu Desdemona? ‚Ich fühle Schmerz an meiner Stirne hier' und wie erläutert er dieß deutlicher im vierten? ‚Mich plagt ein widerwärt'ger böſer Schnupfen.‘ Beiher iſt hier

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/109
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/109>, abgerufen am 22.12.2024.