Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

wollte nirgends recht Platz finden: auch A. E., wie ich
wohl bemerkt hatte, war schon lang von ihm belästigt.
Was kann gleichgültiger, nennensunwerther sein?
Aber -- auf unbewußten Stufen vorbereitet -- sprang
plötzlich ein Etwas in mir empor, eine gewisse Art
von zweitem Gesicht, oder wie soll ich es nennen?
Der Krug war mir kein Krug mehr, sondern ein be¬
seeltes, unverschämtes Wesen, ein Geisterlümmel oder
Lümmelgeist; seine Schnauze war ein unverschämtes
Maul, der erhöhte zinnerne Deckel ein freches Gesicht,
der Griff ein trotzig eingestemmter Arm, dieses Wesen
kroch von Stelle zu Stelle immer dahin, wo es für
uns unbequem stand. Und das Schlimmste war, daß
ich über diesen unseligen neuen Sinn, der mir ange¬
hext war, nicht einmal erschrack, wie gestern über die
andern bedenklichen Symptome, sondern ganz mit mir
eins, ganz sicher war und voll Begierde, das un¬
zweifelhaft schuldvolle Wesen nach Recht und Gerechtig¬
keit zu behandeln: ein Beweis, daß der Prozeß der
Ansteckung sich gänzlich in mir vollzogen hatte. Ich
fuhr auf, ergriff den Sünder, stürzte an's Fenster,
rieß es auf, -- aber schnell fiel A. E. mir in den
Arm: "Noch nicht, mein Lieber! Ich weiß schon, daß
Sie schöne Fortschritte gemacht haben in der Bildung,
aber es ist noch nicht ganz reif, vielleicht sogar noch
etwas Schmeichelei dahinter. Warten Sie! Wenn
es Zeit, werde ich das Zeichen geben!"

wollte nirgends recht Platz finden: auch A. E., wie ich
wohl bemerkt hatte, war ſchon lang von ihm beläſtigt.
Was kann gleichgültiger, nennensunwerther ſein?
Aber — auf unbewußten Stufen vorbereitet — ſprang
plötzlich ein Etwas in mir empor, eine gewiſſe Art
von zweitem Geſicht, oder wie ſoll ich es nennen?
Der Krug war mir kein Krug mehr, ſondern ein be¬
ſeeltes, unverſchämtes Weſen, ein Geiſterlümmel oder
Lümmelgeiſt; ſeine Schnauze war ein unverſchämtes
Maul, der erhöhte zinnerne Deckel ein freches Geſicht,
der Griff ein trotzig eingeſtemmter Arm, dieſes Weſen
kroch von Stelle zu Stelle immer dahin, wo es für
uns unbequem ſtand. Und das Schlimmſte war, daß
ich über dieſen unſeligen neuen Sinn, der mir ange¬
hext war, nicht einmal erſchrack, wie geſtern über die
andern bedenklichen Symptome, ſondern ganz mit mir
eins, ganz ſicher war und voll Begierde, das un¬
zweifelhaft ſchuldvolle Weſen nach Recht und Gerechtig¬
keit zu behandeln: ein Beweis, daß der Prozeß der
Anſteckung ſich gänzlich in mir vollzogen hatte. Ich
fuhr auf, ergriff den Sünder, ſtürzte an's Fenſter,
rieß es auf, — aber ſchnell fiel A. E. mir in den
Arm: „Noch nicht, mein Lieber! Ich weiß ſchon, daß
Sie ſchöne Fortſchritte gemacht haben in der Bildung,
aber es iſt noch nicht ganz reif, vielleicht ſogar noch
etwas Schmeichelei dahinter. Warten Sie! Wenn
es Zeit, werde ich das Zeichen geben!“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0117" n="104"/>
wollte nirgends recht Platz finden: auch A. E., wie ich<lb/>
wohl bemerkt hatte, war &#x017F;chon lang von ihm belä&#x017F;tigt.<lb/>
Was kann gleichgültiger, nennensunwerther &#x017F;ein?<lb/>
Aber &#x2014; auf unbewußten Stufen vorbereitet &#x2014; &#x017F;prang<lb/>
plötzlich ein Etwas in mir empor, eine gewi&#x017F;&#x017F;e Art<lb/>
von zweitem Ge&#x017F;icht, oder wie &#x017F;oll ich es nennen?<lb/>
Der Krug war mir kein Krug mehr, &#x017F;ondern ein be¬<lb/>
&#x017F;eeltes, unver&#x017F;chämtes We&#x017F;en, ein Gei&#x017F;terlümmel oder<lb/>
Lümmelgei&#x017F;t; &#x017F;eine Schnauze war ein unver&#x017F;chämtes<lb/>
Maul, der erhöhte zinnerne Deckel ein freches Ge&#x017F;icht,<lb/>
der Griff ein trotzig einge&#x017F;temmter Arm, die&#x017F;es We&#x017F;en<lb/>
kroch von Stelle zu Stelle immer dahin, wo es für<lb/>
uns unbequem &#x017F;tand. Und das Schlimm&#x017F;te war, daß<lb/>
ich über die&#x017F;en un&#x017F;eligen neuen Sinn, der mir ange¬<lb/>
hext war, nicht einmal er&#x017F;chrack, wie ge&#x017F;tern über die<lb/>
andern bedenklichen Symptome, &#x017F;ondern ganz mit mir<lb/>
eins, ganz &#x017F;icher war und voll Begierde, das un¬<lb/>
zweifelhaft &#x017F;chuldvolle We&#x017F;en nach Recht und Gerechtig¬<lb/>
keit zu behandeln: ein Beweis, daß der Prozeß der<lb/>
An&#x017F;teckung &#x017F;ich gänzlich in mir vollzogen hatte. Ich<lb/>
fuhr auf, ergriff den Sünder, &#x017F;türzte an's Fen&#x017F;ter,<lb/>
rieß es auf, &#x2014; aber &#x017F;chnell fiel A. E. mir in den<lb/>
Arm: &#x201E;Noch nicht, mein Lieber! Ich weiß &#x017F;chon, daß<lb/>
Sie &#x017F;chöne Fort&#x017F;chritte gemacht haben in der Bildung,<lb/>
aber es i&#x017F;t noch nicht ganz reif, vielleicht &#x017F;ogar noch<lb/>
etwas Schmeichelei dahinter. Warten Sie! Wenn<lb/>
es Zeit, werde ich das Zeichen geben!&#x201C;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0117] wollte nirgends recht Platz finden: auch A. E., wie ich wohl bemerkt hatte, war ſchon lang von ihm beläſtigt. Was kann gleichgültiger, nennensunwerther ſein? Aber — auf unbewußten Stufen vorbereitet — ſprang plötzlich ein Etwas in mir empor, eine gewiſſe Art von zweitem Geſicht, oder wie ſoll ich es nennen? Der Krug war mir kein Krug mehr, ſondern ein be¬ ſeeltes, unverſchämtes Weſen, ein Geiſterlümmel oder Lümmelgeiſt; ſeine Schnauze war ein unverſchämtes Maul, der erhöhte zinnerne Deckel ein freches Geſicht, der Griff ein trotzig eingeſtemmter Arm, dieſes Weſen kroch von Stelle zu Stelle immer dahin, wo es für uns unbequem ſtand. Und das Schlimmſte war, daß ich über dieſen unſeligen neuen Sinn, der mir ange¬ hext war, nicht einmal erſchrack, wie geſtern über die andern bedenklichen Symptome, ſondern ganz mit mir eins, ganz ſicher war und voll Begierde, das un¬ zweifelhaft ſchuldvolle Weſen nach Recht und Gerechtig¬ keit zu behandeln: ein Beweis, daß der Prozeß der Anſteckung ſich gänzlich in mir vollzogen hatte. Ich fuhr auf, ergriff den Sünder, ſtürzte an's Fenſter, rieß es auf, — aber ſchnell fiel A. E. mir in den Arm: „Noch nicht, mein Lieber! Ich weiß ſchon, daß Sie ſchöne Fortſchritte gemacht haben in der Bildung, aber es iſt noch nicht ganz reif, vielleicht ſogar noch etwas Schmeichelei dahinter. Warten Sie! Wenn es Zeit, werde ich das Zeichen geben!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/117
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/117>, abgerufen am 22.12.2024.