geschlagen; die grauen Haare hat sie heute sorgfältig geflochten, sie hängen ihr in langen Zöpfen über die Brust. Ihr Antlitz ist heute bemalt: sie hat sich mit Röthel (Rothstein) Figuren darauf gezogen, Linien, die von den Schläfen vorlaufend über die Wangen sich verbreiten und abwärts als in sich gezogene Kreise endigen; ob sie bloße Ornamente oder von geheimni߬ voller Bedeutung, eine Art Runen sind, wissen wir nicht zu sagen. Die Stelle unter den Augen hat sie dunkel¬ blau gefärbt, wie heute noch die Orientalinnen es lieben; ihr Auge lag zwar tief und blitzte stechend genug, um solcher hebenden Folie nicht zu bedürfen. Das Bemalen des Gesichts war eine eben abkommende Sitte, wenige alte Weiber hiengen ihr noch an; daß sie einst geherrscht haben müsse, beweist die Menge von Rothsteinstückchen, die Massikomur damals unter den Zeugen der Vergangenheit im alten Seegrund gefunden hat. Der rechte, hinter das Haupt zurück¬ gebogene Arm der unheimlichen Alten hält den Hand¬ griff eines großen Topfes, zwischen dessen Zickzackver¬ zierungen man dasselbe Zeichen eingegraben sieht, das wir soeben wieder am Stabe des Druiden erblickt haben: eine Gefäßträgerin, freilich nicht so anmuthig wie die Kanephoren auf dem Fries des Parthenon, nicht so schön bewegt in Linien, wie wir im Orient und in Sizilien Wasserträgerinnen, ihren Krug auf der linken Achsel haltend, wandeln sehen; eine seltsame,
geſchlagen; die grauen Haare hat ſie heute ſorgfältig geflochten, ſie hängen ihr in langen Zöpfen über die Bruſt. Ihr Antlitz iſt heute bemalt: ſie hat ſich mit Röthel (Rothſtein) Figuren darauf gezogen, Linien, die von den Schläfen vorlaufend über die Wangen ſich verbreiten und abwärts als in ſich gezogene Kreiſe endigen; ob ſie bloße Ornamente oder von geheimni߬ voller Bedeutung, eine Art Runen ſind, wiſſen wir nicht zu ſagen. Die Stelle unter den Augen hat ſie dunkel¬ blau gefärbt, wie heute noch die Orientalinnen es lieben; ihr Auge lag zwar tief und blitzte ſtechend genug, um ſolcher hebenden Folie nicht zu bedürfen. Das Bemalen des Geſichts war eine eben abkommende Sitte, wenige alte Weiber hiengen ihr noch an; daß ſie einſt geherrſcht haben müſſe, beweiſt die Menge von Rothſteinſtückchen, die Maſſikomur damals unter den Zeugen der Vergangenheit im alten Seegrund gefunden hat. Der rechte, hinter das Haupt zurück¬ gebogene Arm der unheimlichen Alten hält den Hand¬ griff eines großen Topfes, zwiſchen deſſen Zickzackver¬ zierungen man daſſelbe Zeichen eingegraben ſieht, das wir ſoeben wieder am Stabe des Druiden erblickt haben: eine Gefäßträgerin, freilich nicht ſo anmuthig wie die Kanephoren auf dem Fries des Parthenon, nicht ſo ſchön bewegt in Linien, wie wir im Orient und in Sizilien Waſſerträgerinnen, ihren Krug auf der linken Achſel haltend, wandeln ſehen; eine ſeltſame,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0208"n="195"/>
geſchlagen; die grauen Haare hat ſie heute ſorgfältig<lb/>
geflochten, ſie hängen ihr in langen Zöpfen über die<lb/>
Bruſt. Ihr Antlitz iſt heute bemalt: ſie hat ſich mit<lb/>
Röthel (Rothſtein) Figuren darauf gezogen, Linien,<lb/>
die von den Schläfen vorlaufend über die Wangen<lb/>ſich verbreiten und abwärts als in ſich gezogene Kreiſe<lb/>
endigen; ob ſie bloße Ornamente oder von geheimni߬<lb/>
voller Bedeutung, eine Art Runen ſind, wiſſen wir nicht<lb/>
zu ſagen. Die Stelle unter den Augen hat ſie dunkel¬<lb/>
blau gefärbt, wie heute noch die Orientalinnen es<lb/>
lieben; ihr Auge lag zwar tief und blitzte ſtechend<lb/>
genug, um ſolcher hebenden Folie nicht zu bedürfen.<lb/>
Das Bemalen des Geſichts war eine eben abkommende<lb/>
Sitte, wenige alte Weiber hiengen ihr noch an; daß<lb/>ſie einſt geherrſcht haben müſſe, beweiſt die Menge<lb/>
von Rothſteinſtückchen, die Maſſikomur damals unter<lb/>
den Zeugen der Vergangenheit im alten Seegrund<lb/>
gefunden hat. Der rechte, hinter das Haupt zurück¬<lb/>
gebogene Arm der unheimlichen Alten hält den Hand¬<lb/>
griff eines großen Topfes, zwiſchen deſſen Zickzackver¬<lb/>
zierungen man daſſelbe Zeichen eingegraben ſieht, das<lb/>
wir ſoeben wieder am Stabe des Druiden erblickt<lb/>
haben: eine Gefäßträgerin, freilich nicht ſo anmuthig<lb/>
wie die Kanephoren auf dem Fries des Parthenon,<lb/>
nicht ſo ſchön bewegt in Linien, wie wir im Orient<lb/>
und in Sizilien Waſſerträgerinnen, ihren Krug auf der<lb/>
linken Achſel haltend, wandeln ſehen; eine ſeltſame,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[195/0208]
geſchlagen; die grauen Haare hat ſie heute ſorgfältig
geflochten, ſie hängen ihr in langen Zöpfen über die
Bruſt. Ihr Antlitz iſt heute bemalt: ſie hat ſich mit
Röthel (Rothſtein) Figuren darauf gezogen, Linien,
die von den Schläfen vorlaufend über die Wangen
ſich verbreiten und abwärts als in ſich gezogene Kreiſe
endigen; ob ſie bloße Ornamente oder von geheimni߬
voller Bedeutung, eine Art Runen ſind, wiſſen wir nicht
zu ſagen. Die Stelle unter den Augen hat ſie dunkel¬
blau gefärbt, wie heute noch die Orientalinnen es
lieben; ihr Auge lag zwar tief und blitzte ſtechend
genug, um ſolcher hebenden Folie nicht zu bedürfen.
Das Bemalen des Geſichts war eine eben abkommende
Sitte, wenige alte Weiber hiengen ihr noch an; daß
ſie einſt geherrſcht haben müſſe, beweiſt die Menge
von Rothſteinſtückchen, die Maſſikomur damals unter
den Zeugen der Vergangenheit im alten Seegrund
gefunden hat. Der rechte, hinter das Haupt zurück¬
gebogene Arm der unheimlichen Alten hält den Hand¬
griff eines großen Topfes, zwiſchen deſſen Zickzackver¬
zierungen man daſſelbe Zeichen eingegraben ſieht, das
wir ſoeben wieder am Stabe des Druiden erblickt
haben: eine Gefäßträgerin, freilich nicht ſo anmuthig
wie die Kanephoren auf dem Fries des Parthenon,
nicht ſo ſchön bewegt in Linien, wie wir im Orient
und in Sizilien Waſſerträgerinnen, ihren Krug auf der
linken Achſel haltend, wandeln ſehen; eine ſeltſame,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1879, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch01_1879/208>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.