weiter gegangen seien, als zulässig, als mit Vernunft, Würde und Normalstand der Menschennatur vereinbar sei. Die ganze Zeit über hatte der pensionirte Kameral¬ verwalter, der unten am Tisch saß, beharrlich geschwiegen. Ich hatte mir ihn öfters betrachtet. Er gehörte zu jenen bequemlichen alten Herren, die einen ganzen Abend stock¬ still in einer Gesellschaft sitzen; die einzige dramatische Belebung, wodurch sie etwas Wechsel in die absolute Gleichheit dieses Daseins bringen, besteht darin, daß sie von Zeit zu Zeit bedächtig die Cigarre aus dem Mund nehmen, die Meerschaumspitze betrachten, wie weit sie braun geraucht sei, und sie ebenso bedächtig, ja feier¬ lich wieder in den Mund stecken. So hielt es auch dieser stumme Herr, mit der einzigen Zuthat, daß er bisweilen die Hand langsam über seinen Kahlkopf gleiten ließ, wie um zu prüfen, ob die sorgsam von hinten herübergekämmten grauen Härchen noch ordent¬ lich liegen. Der Assessor hatte mir, bemerkend, daß mein Blick öfters mit Behagen auf dem behaglichen Schweiger verweilte, einmal zugeflüstert: "Ueber diesen hat der Selige einst zu mir gesagt: ,der ist so trocken, ich muß in die Hand spucken, wenn ich nur an ihn denke; der Mensch feiert ja ordentliche Bacchanalien, Orgien der langen Weile'; dennoch hat er ihn gern gehabt." Nun, dieser Herr begann jetzt unter allge¬ meinem Erstaunen über das Wunder, daß man ihn zu mehr als ein paar Worten ausholen hörte: "Ich
weiter gegangen ſeien, als zuläſſig, als mit Vernunft, Würde und Normalſtand der Menſchennatur vereinbar ſei. Die ganze Zeit über hatte der penſionirte Kameral¬ verwalter, der unten am Tiſch ſaß, beharrlich geſchwiegen. Ich hatte mir ihn öfters betrachtet. Er gehörte zu jenen bequemlichen alten Herren, die einen ganzen Abend ſtock¬ ſtill in einer Geſellſchaft ſitzen; die einzige dramatiſche Belebung, wodurch ſie etwas Wechſel in die abſolute Gleichheit dieſes Daſeins bringen, beſteht darin, daß ſie von Zeit zu Zeit bedächtig die Cigarre aus dem Mund nehmen, die Meerſchaumſpitze betrachten, wie weit ſie braun geraucht ſei, und ſie ebenſo bedächtig, ja feier¬ lich wieder in den Mund ſtecken. So hielt es auch dieſer ſtumme Herr, mit der einzigen Zuthat, daß er bisweilen die Hand langſam über ſeinen Kahlkopf gleiten ließ, wie um zu prüfen, ob die ſorgſam von hinten herübergekämmten grauen Härchen noch ordent¬ lich liegen. Der Aſſeſſor hatte mir, bemerkend, daß mein Blick öfters mit Behagen auf dem behaglichen Schweiger verweilte, einmal zugeflüſtert: „Ueber dieſen hat der Selige einſt zu mir geſagt: ‚der iſt ſo trocken, ich muß in die Hand ſpucken, wenn ich nur an ihn denke; der Menſch feiert ja ordentliche Bacchanalien, Orgien der langen Weile'; dennoch hat er ihn gern gehabt.“ Nun, dieſer Herr begann jetzt unter allge¬ meinem Erſtaunen über das Wunder, daß man ihn zu mehr als ein paar Worten ausholen hörte: „Ich
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0112"n="99"/>
weiter gegangen ſeien, als zuläſſig, als mit Vernunft,<lb/>
Würde und Normalſtand der Menſchennatur vereinbar<lb/>ſei. Die ganze Zeit über hatte der penſionirte Kameral¬<lb/>
verwalter, der unten am Tiſch ſaß, beharrlich geſchwiegen.<lb/>
Ich hatte mir ihn öfters betrachtet. Er gehörte zu jenen<lb/>
bequemlichen alten Herren, die einen ganzen Abend ſtock¬<lb/>ſtill in einer Geſellſchaft ſitzen; die einzige dramatiſche<lb/>
Belebung, wodurch ſie etwas Wechſel in die abſolute<lb/>
Gleichheit dieſes Daſeins bringen, beſteht darin, daß ſie<lb/>
von Zeit zu Zeit bedächtig die Cigarre aus dem Mund<lb/>
nehmen, die Meerſchaumſpitze betrachten, wie weit ſie<lb/>
braun geraucht ſei, und ſie ebenſo bedächtig, ja feier¬<lb/>
lich wieder in den Mund ſtecken. So hielt es auch<lb/>
dieſer ſtumme Herr, mit der einzigen Zuthat, daß er<lb/>
bisweilen die Hand langſam über ſeinen Kahlkopf<lb/>
gleiten ließ, wie um zu prüfen, ob die ſorgſam von<lb/>
hinten herübergekämmten grauen Härchen noch ordent¬<lb/>
lich liegen. Der Aſſeſſor hatte mir, bemerkend, daß<lb/>
mein Blick öfters mit Behagen auf dem behaglichen<lb/>
Schweiger verweilte, einmal zugeflüſtert: „Ueber dieſen<lb/>
hat der Selige einſt zu mir geſagt: ‚der iſt ſo trocken,<lb/>
ich muß in die Hand ſpucken, wenn ich nur an ihn<lb/>
denke; der Menſch feiert ja ordentliche Bacchanalien,<lb/>
Orgien der langen Weile'; dennoch hat er ihn gern<lb/>
gehabt.“ Nun, dieſer Herr begann jetzt unter allge¬<lb/>
meinem Erſtaunen über das Wunder, daß man ihn<lb/>
zu mehr als ein paar Worten ausholen hörte: „Ich<lb/></p></body></text></TEI>
[99/0112]
weiter gegangen ſeien, als zuläſſig, als mit Vernunft,
Würde und Normalſtand der Menſchennatur vereinbar
ſei. Die ganze Zeit über hatte der penſionirte Kameral¬
verwalter, der unten am Tiſch ſaß, beharrlich geſchwiegen.
Ich hatte mir ihn öfters betrachtet. Er gehörte zu jenen
bequemlichen alten Herren, die einen ganzen Abend ſtock¬
ſtill in einer Geſellſchaft ſitzen; die einzige dramatiſche
Belebung, wodurch ſie etwas Wechſel in die abſolute
Gleichheit dieſes Daſeins bringen, beſteht darin, daß ſie
von Zeit zu Zeit bedächtig die Cigarre aus dem Mund
nehmen, die Meerſchaumſpitze betrachten, wie weit ſie
braun geraucht ſei, und ſie ebenſo bedächtig, ja feier¬
lich wieder in den Mund ſtecken. So hielt es auch
dieſer ſtumme Herr, mit der einzigen Zuthat, daß er
bisweilen die Hand langſam über ſeinen Kahlkopf
gleiten ließ, wie um zu prüfen, ob die ſorgſam von
hinten herübergekämmten grauen Härchen noch ordent¬
lich liegen. Der Aſſeſſor hatte mir, bemerkend, daß
mein Blick öfters mit Behagen auf dem behaglichen
Schweiger verweilte, einmal zugeflüſtert: „Ueber dieſen
hat der Selige einſt zu mir geſagt: ‚der iſt ſo trocken,
ich muß in die Hand ſpucken, wenn ich nur an ihn
denke; der Menſch feiert ja ordentliche Bacchanalien,
Orgien der langen Weile'; dennoch hat er ihn gern
gehabt.“ Nun, dieſer Herr begann jetzt unter allge¬
meinem Erſtaunen über das Wunder, daß man ihn
zu mehr als ein paar Worten ausholen hörte: „Ich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/112>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.