Wirth in Göschenen fand ich nicht wieder, von den schönen Bellinzonesen sah ich nichts mehr, der Granit¬ block gegenüber dem Wirthshause war verschwunden, die ganze Ortschaft schien italienisch geworden, denn sie wimmelte von welschen Arbeitern am Bau der furchtbaren Höhle, die Menschenhand durch die Einge¬ weide der Granitwelt bohrt: bleiche, traurige Menschen, die man mit ihrer Hängelampe zu dem dumpfen, stickluftschwangern Schlunde schleichen sieht, als gienge es in's Grab. Als ich vom Marsche bis Andermatt wieder zurückkam und das Dorf rasch durchschritt, kam mir Jemand nachgelaufen und sprach mich an. Es war eine wohlgethane Frau von vorgeschrittenen Jahren in sauberer, ländlicher Kleidung; "ach," rief sie, "ver¬ zeihen Sie doch, schon heut Vormittag meinte ich Sie zu erkennen, sind Sie denn nicht der Herr, der anno Fünfundsechzig dazumal mit dem andern Herrn -- ?" Ich ersparte ihr gern die Mühe, einen Satz zu vollenden, der die nicht leichte Aufgabe hatte, rücksichts¬ voll zu bezeichnen, was Tolles damals geschehen war, und bejahte um so eher, da ich gleichzeitig die Frau zu erkennen meinte, die damals mit dem Kind auf dem Arm so still vorwurfsvoll unserem Beginnen zusah. "Burgi! Burgi!" rief sie zurück, "komm' doch, komm'!" Ein blühendes Mädchen kam nachgelaufen. "Sieh', das ist der Herr, der kann uns erzählen von unserem Wohlthäter, der ist mit ihm dagewesen." Ich küßte
Wirth in Göſchenen fand ich nicht wieder, von den ſchönen Bellinzoneſen ſah ich nichts mehr, der Granit¬ block gegenüber dem Wirthshauſe war verſchwunden, die ganze Ortſchaft ſchien italieniſch geworden, denn ſie wimmelte von welſchen Arbeitern am Bau der furchtbaren Höhle, die Menſchenhand durch die Einge¬ weide der Granitwelt bohrt: bleiche, traurige Menſchen, die man mit ihrer Hängelampe zu dem dumpfen, ſtickluftſchwangern Schlunde ſchleichen ſieht, als gienge es in's Grab. Als ich vom Marſche bis Andermatt wieder zurückkam und das Dorf raſch durchſchritt, kam mir Jemand nachgelaufen und ſprach mich an. Es war eine wohlgethane Frau von vorgeſchrittenen Jahren in ſauberer, ländlicher Kleidung; „ach,“ rief ſie, „ver¬ zeihen Sie doch, ſchon heut Vormittag meinte ich Sie zu erkennen, ſind Sie denn nicht der Herr, der anno Fünfundſechzig dazumal mit dem andern Herrn — ?“ Ich erſparte ihr gern die Mühe, einen Satz zu vollenden, der die nicht leichte Aufgabe hatte, rückſichts¬ voll zu bezeichnen, was Tolles damals geſchehen war, und bejahte um ſo eher, da ich gleichzeitig die Frau zu erkennen meinte, die damals mit dem Kind auf dem Arm ſo ſtill vorwurfsvoll unſerem Beginnen zuſah. „Burgi! Burgi!“ rief ſie zurück, „komm' doch, komm'!“ Ein blühendes Mädchen kam nachgelaufen. „Sieh', das iſt der Herr, der kann uns erzählen von unſerem Wohlthäter, der iſt mit ihm dageweſen.“ Ich küßte
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Wirth in Göſchenen fand ich nicht wieder, von den
ſchönen Bellinzoneſen ſah ich nichts mehr, der Granit¬
block gegenüber dem Wirthshauſe war verſchwunden,
die ganze Ortſchaft ſchien italieniſch geworden, denn
ſie wimmelte von welſchen Arbeitern am Bau der
furchtbaren Höhle, die Menſchenhand durch die Einge¬
weide der Granitwelt bohrt: bleiche, traurige Menſchen,
die man mit ihrer Hängelampe zu dem dumpfen,
ſtickluftſchwangern Schlunde ſchleichen ſieht, als gienge
es in's Grab. Als ich vom Marſche bis Andermatt
wieder zurückkam und das Dorf raſch durchſchritt, kam
mir Jemand nachgelaufen und ſprach mich an. Es
war eine wohlgethane Frau von vorgeſchrittenen Jahren
in ſauberer, ländlicher Kleidung; „ach,“ rief ſie, „ver¬
zeihen Sie doch, ſchon heut Vormittag meinte ich Sie
zu erkennen, ſind Sie denn nicht der Herr, der anno
Fünfundſechzig dazumal mit dem andern Herrn — ?“
Ich erſparte ihr gern die Mühe, einen Satz zu
vollenden, der die nicht leichte Aufgabe hatte, rückſichts¬
voll zu bezeichnen, was Tolles damals geſchehen war,
und bejahte um ſo eher, da ich gleichzeitig die Frau
zu erkennen meinte, die damals mit dem Kind auf
dem Arm ſo ſtill vorwurfsvoll unſerem Beginnen zuſah.
„Burgi! Burgi!“ rief ſie zurück, „komm' doch, komm'!“
Ein blühendes Mädchen kam nachgelaufen. „Sieh',
das iſt der Herr, der kann uns erzählen von unſerem
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/114>, abgerufen am 16.02.2025.
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