Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

In den zwei ersten ist es still wie in einer Kirche
(aber ohne Pfarrer), im "Don Carlos" laut, doch
die Luft im Mittelpunkt religiös gestimmt auch hier.
(W. Tell reifes Kunstwerk, doch nicht so tief.)

Welches Menschenvolk, das, diese Vernunftwerke
an der Spitze seiner Dichtung und Bildung, heute
noch nicht weiß, was Religion ist! Sie noch in den
Glaubenssätzen sucht! Oder mit ihnen wegwirft!


Goethe hatte zum Drama zu wenig Galle. Schiller
hatte mehr von diesem Desiderat. Shakespeare das
rechte Quantum, und doch gerade bei ihm bleibt die
Galle nirgends als bloßer Stoff liegen (außer im
Timon von Athen). -- Ungeläuterter Stoff findet
sich bei ihm auf anderen Punkten.


Goethe hat in die Schlechtigkeit der Menschen schon
in früher Jugend zum Erschrecken hell hindurchgesehen.
Er sagt irgendwo, es sei ein Wunder, daß ihm das
Leben nicht langweilig werde, da ihm die Erfahrung
hierin gar nichts Neues bringe. Seine hohe Natur
hat ihm darüber emporgeholfen, er hat sich an die
Guten gehalten und von da aus -- von der "engen
Himmelszelle" -- die Welt angeschaut. Wobei ihm
sein leichtes Frankenblut viel geholfen hat. Nun hat

In den zwei erſten iſt es ſtill wie in einer Kirche
(aber ohne Pfarrer), im „Don Carlos“ laut, doch
die Luft im Mittelpunkt religiös geſtimmt auch hier.
(W. Tell reifes Kunſtwerk, doch nicht ſo tief.)

Welches Menſchenvolk, das, dieſe Vernunftwerke
an der Spitze ſeiner Dichtung und Bildung, heute
noch nicht weiß, was Religion iſt! Sie noch in den
Glaubensſätzen ſucht! Oder mit ihnen wegwirft!


Goethe hatte zum Drama zu wenig Galle. Schiller
hatte mehr von dieſem Deſiderat. Shakeſpeare das
rechte Quantum, und doch gerade bei ihm bleibt die
Galle nirgends als bloßer Stoff liegen (außer im
Timon von Athen). — Ungeläuterter Stoff findet
ſich bei ihm auf anderen Punkten.


Goethe hat in die Schlechtigkeit der Menſchen ſchon
in früher Jugend zum Erſchrecken hell hindurchgeſehen.
Er ſagt irgendwo, es ſei ein Wunder, daß ihm das
Leben nicht langweilig werde, da ihm die Erfahrung
hierin gar nichts Neues bringe. Seine hohe Natur
hat ihm darüber emporgeholfen, er hat ſich an die
Guten gehalten und von da aus — von der „engen
Himmelszelle“ — die Welt angeſchaut. Wobei ihm
ſein leichtes Frankenblut viel geholfen hat. Nun hat

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <pb facs="#f0135" n="122"/>
        <p>In den zwei er&#x017F;ten i&#x017F;t es &#x017F;till wie in einer <hi rendition="#g">Kirche</hi><lb/>
(aber ohne Pfarrer), im &#x201E;Don Carlos&#x201C; laut, doch<lb/>
die Luft im Mittelpunkt religiös ge&#x017F;timmt auch hier.<lb/>
(W. Tell reifes Kun&#x017F;twerk, doch nicht &#x017F;o tief.)</p><lb/>
        <p>Welches Men&#x017F;chenvolk, das, <hi rendition="#g">die&#x017F;e</hi> Vernunftwerke<lb/>
an der Spitze &#x017F;einer Dichtung und Bildung, heute<lb/>
noch nicht weiß, was Religion i&#x017F;t! Sie noch in den<lb/>
Glaubens&#x017F;ätzen &#x017F;ucht! Oder mit ihnen wegwirft!</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Goethe hatte zum Drama zu wenig Galle. Schiller<lb/>
hatte mehr von die&#x017F;em De&#x017F;iderat. Shake&#x017F;peare das<lb/>
rechte Quantum, und doch gerade bei ihm bleibt die<lb/>
Galle nirgends als bloßer Stoff liegen (außer im<lb/>
Timon von Athen). &#x2014; Ungeläuterter Stoff findet<lb/>
&#x017F;ich bei ihm auf anderen Punkten.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Goethe hat in die Schlechtigkeit der Men&#x017F;chen &#x017F;chon<lb/>
in früher Jugend zum Er&#x017F;chrecken hell hindurchge&#x017F;ehen.<lb/>
Er &#x017F;agt irgendwo, es &#x017F;ei ein Wunder, daß ihm das<lb/>
Leben nicht langweilig werde, da ihm die Erfahrung<lb/>
hierin gar nichts Neues bringe. Seine hohe Natur<lb/>
hat ihm darüber emporgeholfen, er hat &#x017F;ich an die<lb/>
Guten gehalten und von da aus &#x2014; von der &#x201E;engen<lb/>
Himmelszelle&#x201C; &#x2014; die Welt ange&#x017F;chaut. Wobei ihm<lb/>
&#x017F;ein leichtes Frankenblut viel geholfen hat. Nun hat<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0135] In den zwei erſten iſt es ſtill wie in einer Kirche (aber ohne Pfarrer), im „Don Carlos“ laut, doch die Luft im Mittelpunkt religiös geſtimmt auch hier. (W. Tell reifes Kunſtwerk, doch nicht ſo tief.) Welches Menſchenvolk, das, dieſe Vernunftwerke an der Spitze ſeiner Dichtung und Bildung, heute noch nicht weiß, was Religion iſt! Sie noch in den Glaubensſätzen ſucht! Oder mit ihnen wegwirft! Goethe hatte zum Drama zu wenig Galle. Schiller hatte mehr von dieſem Deſiderat. Shakeſpeare das rechte Quantum, und doch gerade bei ihm bleibt die Galle nirgends als bloßer Stoff liegen (außer im Timon von Athen). — Ungeläuterter Stoff findet ſich bei ihm auf anderen Punkten. Goethe hat in die Schlechtigkeit der Menſchen ſchon in früher Jugend zum Erſchrecken hell hindurchgeſehen. Er ſagt irgendwo, es ſei ein Wunder, daß ihm das Leben nicht langweilig werde, da ihm die Erfahrung hierin gar nichts Neues bringe. Seine hohe Natur hat ihm darüber emporgeholfen, er hat ſich an die Guten gehalten und von da aus — von der „engen Himmelszelle“ — die Welt angeſchaut. Wobei ihm ſein leichtes Frankenblut viel geholfen hat. Nun hat

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/135
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/135>, abgerufen am 18.05.2024.