Morgen dem Ziele sich näherte. Ich enthielt mich, Mitreisende mit Erkundigungen anzugehen; ungeschmä¬ lert von halbem Vorwissen wollte ich die Wohlthat genießen, nun den Mann in seiner Heimath, seinen Lebensbedingungen erst ganz kennen zu lernen. Gleich nach der Ankunft eilte ich in einen Gasthof und fragte schon unter der Thüre nach der Wohnung des räthsel¬ haften Freundes. "Sie treffen ihn nicht mehr am Leben," sagte mit schmerzlicher Miene der Wirth. Ich zuckte zusammen. "Ein blutiger Tod," setzte er hin¬ zu; "Tod durch einen Messerstich im Streite mit einem rohen Fuhrmann." -- "Hat er Familie hinter¬ lassen?" -- "Er war Junggeselle, eine Verwandte hielt ihm Haus, Frau Hedwig, eine Wittwe." -- "Ist sie noch da?" -- "Sie verbleibt im Hause." -- Ich ließ mir Straße und Hausnummer angeben, wies Begleitung ab und fand mich bald zurecht.
Ich sah an der Nummernzahl, daß ich der Woh¬ nung nahe sein müsse, als mir hart an der Nase ein Trinkglas vorüberflog und auf dem Pflaster klirrend zerschellte. Mir war, als streifte mich der Geist des Verstorbenen. -- Das Haus war gefunden und wurde auf mein Läuten geöffnet; im Flur stürzten zwei Hunde die Treppe herab auf mich zu, laut bellend, doch nicht in feindlichem Tone, es war der halbwim¬ mernde Ruf, welchen dieß Hausthier in der Aufregung der Freude hören läßt. Plötzlich blieben sie vor mir
Morgen dem Ziele ſich näherte. Ich enthielt mich, Mitreiſende mit Erkundigungen anzugehen; ungeſchmä¬ lert von halbem Vorwiſſen wollte ich die Wohlthat genießen, nun den Mann in ſeiner Heimath, ſeinen Lebensbedingungen erſt ganz kennen zu lernen. Gleich nach der Ankunft eilte ich in einen Gaſthof und fragte ſchon unter der Thüre nach der Wohnung des räthſel¬ haften Freundes. „Sie treffen ihn nicht mehr am Leben,“ ſagte mit ſchmerzlicher Miene der Wirth. Ich zuckte zuſammen. „Ein blutiger Tod,“ ſetzte er hin¬ zu; „Tod durch einen Meſſerſtich im Streite mit einem rohen Fuhrmann.“ — „Hat er Familie hinter¬ laſſen?“ — „Er war Junggeſelle, eine Verwandte hielt ihm Haus, Frau Hedwig, eine Wittwe.“ — „Iſt ſie noch da?“ — „Sie verbleibt im Hauſe.“ — Ich ließ mir Straße und Hausnummer angeben, wies Begleitung ab und fand mich bald zurecht.
Ich ſah an der Nummernzahl, daß ich der Woh¬ nung nahe ſein müſſe, als mir hart an der Naſe ein Trinkglas vorüberflog und auf dem Pflaſter klirrend zerſchellte. Mir war, als ſtreifte mich der Geiſt des Verſtorbenen. — Das Haus war gefunden und wurde auf mein Läuten geöffnet; im Flur ſtürzten zwei Hunde die Treppe herab auf mich zu, laut bellend, doch nicht in feindlichem Tone, es war der halbwim¬ mernde Ruf, welchen dieß Hausthier in der Aufregung der Freude hören läßt. Plötzlich blieben ſie vor mir
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Morgen dem Ziele ſich näherte. Ich enthielt mich,
Mitreiſende mit Erkundigungen anzugehen; ungeſchmä¬
lert von halbem Vorwiſſen wollte ich die Wohlthat
genießen, nun den Mann in ſeiner Heimath, ſeinen
Lebensbedingungen erſt ganz kennen zu lernen. Gleich
nach der Ankunft eilte ich in einen Gaſthof und fragte
ſchon unter der Thüre nach der Wohnung des räthſel¬
haften Freundes. „Sie treffen ihn nicht mehr am
Leben,“ ſagte mit ſchmerzlicher Miene der Wirth. Ich
zuckte zuſammen. „Ein blutiger Tod,“ ſetzte er hin¬
zu; „Tod durch einen Meſſerſtich im Streite mit
einem rohen Fuhrmann.“ — „Hat er Familie hinter¬
laſſen?“ — „Er war Junggeſelle, eine Verwandte
hielt ihm Haus, Frau Hedwig, eine Wittwe.“ — „Iſt
ſie noch da?“ — „Sie verbleibt im Hauſe.“ — Ich
ließ mir Straße und Hausnummer angeben, wies
Begleitung ab und fand mich bald zurecht.
Ich ſah an der Nummernzahl, daß ich der Woh¬
nung nahe ſein müſſe, als mir hart an der Naſe ein
Trinkglas vorüberflog und auf dem Pflaſter klirrend
zerſchellte. Mir war, als ſtreifte mich der Geiſt des
Verſtorbenen. — Das Haus war gefunden und wurde
auf mein Läuten geöffnet; im Flur ſtürzten zwei
Hunde die Treppe herab auf mich zu, laut bellend,
doch nicht in feindlichem Tone, es war der halbwim¬
mernde Ruf, welchen dieß Hausthier in der Aufregung
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/23>, abgerufen am 21.11.2024.
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