Phlegma, oder ist es anders zu bezeichnen? Man meint oft, diese Leute müssen ja Fischblut haben, wird irre, wenn man wieder den nachhaltigen Zorn sieht.
Die Schwaben sind zornig. Muß namentlich vom Neckarwein kommen, der bös macht; hab's in jenen Wochen an mir erfahren. Schiller veredelte diesen Zorn zum Zorn gegen das Gemeine. Das Volk sehr roh, so viel ich an Sonn- und Feiertagen auf der Eisenbahn bemerken konnte. Besonders wüstes Fluchen. Auch wilde Thiermißhandlung. Beamter in Stuttgart, klarer Mann, fähig, aus Vogelperspektive zu sehen, sagte: was ein rechter Schwab ist, wird nie ganz zahm. -- Sehr häufig die "oculi truces" des Tacitus.
Formlosigkeit prinzipiell gemacht: sie gilt für wahre Natur; Form gilt für affektirt, vor Allem: höher belebte Form, doch auch einfach richtige Form, zum Bei¬ spiel reines Deutsch. Wissen aber doch in Kunst und Wissenschaft sehr wohl, was große Form ist.
Vieles offenbar auch Folge der langen Abgeschlossen¬ heit vom großen Verkehr. Weltlosigkeit, Versessenheit, Stagnation. Hauptstadt in einem Kessel, können nicht oben hinausgucken. Entsteht ein deutsches Reich,
Phlegma, oder iſt es anders zu bezeichnen? Man meint oft, dieſe Leute müſſen ja Fiſchblut haben, wird irre, wenn man wieder den nachhaltigen Zorn ſieht.
Die Schwaben ſind zornig. Muß namentlich vom Neckarwein kommen, der bös macht; hab’s in jenen Wochen an mir erfahren. Schiller veredelte dieſen Zorn zum Zorn gegen das Gemeine. Das Volk ſehr roh, ſo viel ich an Sonn- und Feiertagen auf der Eiſenbahn bemerken konnte. Beſonders wüſtes Fluchen. Auch wilde Thiermißhandlung. Beamter in Stuttgart, klarer Mann, fähig, aus Vogelperſpektive zu ſehen, ſagte: was ein rechter Schwab iſt, wird nie ganz zahm. — Sehr häufig die „oculi truces“ des Tacitus.
Formloſigkeit prinzipiell gemacht: ſie gilt für wahre Natur; Form gilt für affektirt, vor Allem: höher belebte Form, doch auch einfach richtige Form, zum Bei¬ ſpiel reines Deutſch. Wiſſen aber doch in Kunſt und Wiſſenſchaft ſehr wohl, was große Form iſt.
Vieles offenbar auch Folge der langen Abgeſchloſſen¬ heit vom großen Verkehr. Weltloſigkeit, Verſeſſenheit, Stagnation. Hauptſtadt in einem Keſſel, können nicht oben hinausgucken. Entſteht ein deutſches Reich,
<TEI><text><body><div><p><pbfacs="#f0256"n="243"/>
Phlegma, oder iſt es anders zu bezeichnen? Man<lb/>
meint oft, dieſe Leute müſſen ja Fiſchblut haben, wird<lb/><hirendition="#g">irre</hi>, wenn man wieder den nachhaltigen Zorn ſieht.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Die Schwaben ſind zornig. Muß namentlich vom<lb/>
Neckarwein kommen, der bös macht; hab’s in jenen<lb/>
Wochen an mir erfahren. Schiller veredelte dieſen<lb/>
Zorn zum Zorn gegen das Gemeine. Das Volk ſehr<lb/>
roh, ſo viel ich an Sonn- und Feiertagen auf der<lb/>
Eiſenbahn bemerken konnte. Beſonders wüſtes Fluchen.<lb/>
Auch wilde Thiermißhandlung. Beamter in Stuttgart,<lb/>
klarer Mann, fähig, aus Vogelperſpektive zu ſehen, ſagte:<lb/>
was ein rechter Schwab iſt, wird nie ganz zahm. —<lb/>
Sehr häufig die <hirendition="#aq">„oculi truces“</hi> des Tacitus.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Formloſigkeit prinzipiell gemacht: ſie gilt für wahre<lb/>
Natur; Form gilt für affektirt, vor Allem: höher<lb/>
belebte Form, doch auch einfach richtige Form, zum Bei¬<lb/>ſpiel reines Deutſch. Wiſſen aber doch in Kunſt und<lb/>
Wiſſenſchaft ſehr wohl, was große Form iſt.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Vieles offenbar auch Folge der langen Abgeſchloſſen¬<lb/>
heit vom großen Verkehr. Weltloſigkeit, Verſeſſenheit,<lb/>
Stagnation. Hauptſtadt in einem Keſſel, können<lb/>
nicht oben hinausgucken. Entſteht ein deutſches Reich,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[243/0256]
Phlegma, oder iſt es anders zu bezeichnen? Man
meint oft, dieſe Leute müſſen ja Fiſchblut haben, wird
irre, wenn man wieder den nachhaltigen Zorn ſieht.
Die Schwaben ſind zornig. Muß namentlich vom
Neckarwein kommen, der bös macht; hab’s in jenen
Wochen an mir erfahren. Schiller veredelte dieſen
Zorn zum Zorn gegen das Gemeine. Das Volk ſehr
roh, ſo viel ich an Sonn- und Feiertagen auf der
Eiſenbahn bemerken konnte. Beſonders wüſtes Fluchen.
Auch wilde Thiermißhandlung. Beamter in Stuttgart,
klarer Mann, fähig, aus Vogelperſpektive zu ſehen, ſagte:
was ein rechter Schwab iſt, wird nie ganz zahm. —
Sehr häufig die „oculi truces“ des Tacitus.
Formloſigkeit prinzipiell gemacht: ſie gilt für wahre
Natur; Form gilt für affektirt, vor Allem: höher
belebte Form, doch auch einfach richtige Form, zum Bei¬
ſpiel reines Deutſch. Wiſſen aber doch in Kunſt und
Wiſſenſchaft ſehr wohl, was große Form iſt.
Vieles offenbar auch Folge der langen Abgeſchloſſen¬
heit vom großen Verkehr. Weltloſigkeit, Verſeſſenheit,
Stagnation. Hauptſtadt in einem Keſſel, können
nicht oben hinausgucken. Entſteht ein deutſches Reich,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/256>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.