Weiß der Himmel, daß es der Zeit an Religion fehlt! Aber was ist Religion? Wie tausendmal ist's gesagt, und immer vergeblich, daß an diese und diese übernatürliche Person, behauptete Wunderthatsachen und dergleichen glauben nicht Religion ist. Ja, wenn man unter Glauben verstände Glauben an eine sittliche Welt¬ ordnung, die wir nicht streng beweisen können! Aber das meint man ja eben nicht bei dem Wort, sondern Glauben an genannte Stücke, das heißt an sinnlich Ein¬ zelnes, das übersinnlich sein soll. Ein Kind könnte doch einsehen, daß man das Alles glauben und doch gemein, niedrig egoistisch, seelenroh, undankbar, lieblos sein, überhaupt so leben kann, als müßte das Weltall diesem Ich dienen. Frage dich täglich: bin ich denn das Weltall? So kannst du dich zur Religion an¬ leiten. Religion ist Opfer der Selbstsucht, Religion ist: Durchschüttert-, Durchweicht-, Durchmürbtsein vom Grundgefühl: ich bin ein Nichts im Ganzen, wenn ich ihm nicht diene! Religion ist daher tragische Freude, zu dienen. Was die Moral fordert, dazu gibt Religion die Lust und Kraft, und was ich fehle, nicht leisten kann: da tröstet mich die Religion durch Gefühl und Ahnen der unendlichen Wechselergänzung im Ganzen.
Je mehr getreuer Knecht, um so mehr bist du frei und Herr.
Weiß der Himmel, daß es der Zeit an Religion fehlt! Aber was iſt Religion? Wie tauſendmal iſt's geſagt, und immer vergeblich, daß an dieſe und dieſe übernatürliche Perſon, behauptete Wunderthatſachen und dergleichen glauben nicht Religion iſt. Ja, wenn man unter Glauben verſtände Glauben an eine ſittliche Welt¬ ordnung, die wir nicht ſtreng beweiſen können! Aber das meint man ja eben nicht bei dem Wort, ſondern Glauben an genannte Stücke, das heißt an ſinnlich Ein¬ zelnes, das überſinnlich ſein ſoll. Ein Kind könnte doch einſehen, daß man das Alles glauben und doch gemein, niedrig egoiſtiſch, ſeelenroh, undankbar, lieblos ſein, überhaupt ſo leben kann, als müßte das Weltall dieſem Ich dienen. Frage dich täglich: bin ich denn das Weltall? So kannſt du dich zur Religion an¬ leiten. Religion iſt Opfer der Selbſtſucht, Religion iſt: Durchſchüttert-, Durchweicht-, Durchmürbtſein vom Grundgefühl: ich bin ein Nichts im Ganzen, wenn ich ihm nicht diene! Religion iſt daher tragiſche Freude, zu dienen. Was die Moral fordert, dazu gibt Religion die Luſt und Kraft, und was ich fehle, nicht leiſten kann: da tröſtet mich die Religion durch Gefühl und Ahnen der unendlichen Wechſelergänzung im Ganzen.
Je mehr getreuer Knecht, um ſo mehr biſt du frei und Herr.
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Weiß der Himmel, daß es der Zeit an Religion
fehlt! Aber was iſt Religion? Wie tauſendmal iſt's
geſagt, und immer vergeblich, daß an dieſe und dieſe
übernatürliche Perſon, behauptete Wunderthatſachen und
dergleichen glauben nicht Religion iſt. Ja, wenn man
unter Glauben verſtände Glauben an eine ſittliche Welt¬
ordnung, die wir nicht ſtreng beweiſen können! Aber
das meint man ja eben nicht bei dem Wort, ſondern
Glauben an genannte Stücke, das heißt an ſinnlich Ein¬
zelnes, das überſinnlich ſein ſoll. Ein Kind könnte
doch einſehen, daß man das Alles glauben und doch
gemein, niedrig egoiſtiſch, ſeelenroh, undankbar, lieblos
ſein, überhaupt ſo leben kann, als müßte das Weltall
dieſem Ich dienen. Frage dich täglich: bin ich denn
das Weltall? So kannſt du dich zur Religion an¬
leiten. Religion iſt Opfer der Selbſtſucht, Religion
iſt: Durchſchüttert-, Durchweicht-, Durchmürbtſein vom
Grundgefühl: ich bin ein Nichts im Ganzen, wenn ich
ihm nicht diene! Religion iſt daher tragiſche Freude,
zu dienen. Was die Moral fordert, dazu gibt Religion
die Luſt und Kraft, und was ich fehle, nicht leiſten
kann: da tröſtet mich die Religion durch Gefühl und
Ahnen der unendlichen Wechſelergänzung im Ganzen.
Je mehr getreuer Knecht, um ſo mehr biſt du frei
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/288>, abgerufen am 25.11.2024.
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