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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

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Alle positive Religion unterscheidet sich dadurch von
der reinen, daß sie sinnliche Formen in's Uebersinn¬
liche, Begriffe, die nur dem Endlichen gelten, in's Un¬
endliche überträgt. Der Fluch der Pfaffen auf uns
heißt, richtig übersetzt: seid verdammt, weil ihr vom
Uebersinnlichen nicht sinnlich denkt wie wir!


Geistlichkeit und Geistigkeit sind jedenfalls keine
Synonyma. -- Es ist nur das kleine l, was den
großen Strich dazwischen macht. Das l ist hier eine
Schlinge, mittelst welcher in das rein Geistige (sittliche
Volkserziehung) ein Zauberbegriff hereingezogen wird.
Könnten wir den Begriff aufheben, daß die Verwalter
des Kultus und höheren Volkspädagogen Magier seien
(in den sogenannten Sakramenten), so wäre ihnen und
uns geholfen. Ihnen, denn wie viele brave Männer
in diesem Stande werden durch den Machtwahn, zau¬
bern zu können, verführt und verkrümmt!


Religion zu haben, nicht die wahre, sondern was
dafür gehalten wird, gilt jetzt für vornehm. Mit schön¬
gebundenem Gesang- oder Gebetbuch in Predigt oder
Messe! Wenn sie's wüßten, wie falsch sie Recht haben!
Ja wohl, ja wohl, Niemand hat Bildung anzusprechen,
der nicht Religion hat! Das wahrhaft Bildende ist

Alle poſitive Religion unterſcheidet ſich dadurch von
der reinen, daß ſie ſinnliche Formen in's Ueberſinn¬
liche, Begriffe, die nur dem Endlichen gelten, in's Un¬
endliche überträgt. Der Fluch der Pfaffen auf uns
heißt, richtig überſetzt: ſeid verdammt, weil ihr vom
Ueberſinnlichen nicht ſinnlich denkt wie wir!


Geiſtlichkeit und Geiſtigkeit ſind jedenfalls keine
Synonyma. — Es iſt nur das kleine l, was den
großen Strich dazwiſchen macht. Das l iſt hier eine
Schlinge, mittelſt welcher in das rein Geiſtige (ſittliche
Volkserziehung) ein Zauberbegriff hereingezogen wird.
Könnten wir den Begriff aufheben, daß die Verwalter
des Kultus und höheren Volkspädagogen Magier ſeien
(in den ſogenannten Sakramenten), ſo wäre ihnen und
uns geholfen. Ihnen, denn wie viele brave Männer
in dieſem Stande werden durch den Machtwahn, zau¬
bern zu können, verführt und verkrümmt!


Religion zu haben, nicht die wahre, ſondern was
dafür gehalten wird, gilt jetzt für vornehm. Mit ſchön¬
gebundenem Geſang- oder Gebetbuch in Predigt oder
Meſſe! Wenn ſie's wüßten, wie falſch ſie Recht haben!
Ja wohl, ja wohl, Niemand hat Bildung anzuſprechen,
der nicht Religion hat! Das wahrhaft Bildende iſt

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[276/0289] Alle poſitive Religion unterſcheidet ſich dadurch von der reinen, daß ſie ſinnliche Formen in's Ueberſinn¬ liche, Begriffe, die nur dem Endlichen gelten, in's Un¬ endliche überträgt. Der Fluch der Pfaffen auf uns heißt, richtig überſetzt: ſeid verdammt, weil ihr vom Ueberſinnlichen nicht ſinnlich denkt wie wir! Geiſtlichkeit und Geiſtigkeit ſind jedenfalls keine Synonyma. — Es iſt nur das kleine l, was den großen Strich dazwiſchen macht. Das l iſt hier eine Schlinge, mittelſt welcher in das rein Geiſtige (ſittliche Volkserziehung) ein Zauberbegriff hereingezogen wird. Könnten wir den Begriff aufheben, daß die Verwalter des Kultus und höheren Volkspädagogen Magier ſeien (in den ſogenannten Sakramenten), ſo wäre ihnen und uns geholfen. Ihnen, denn wie viele brave Männer in dieſem Stande werden durch den Machtwahn, zau¬ bern zu können, verführt und verkrümmt! Religion zu haben, nicht die wahre, ſondern was dafür gehalten wird, gilt jetzt für vornehm. Mit ſchön¬ gebundenem Geſang- oder Gebetbuch in Predigt oder Meſſe! Wenn ſie's wüßten, wie falſch ſie Recht haben! Ja wohl, ja wohl, Niemand hat Bildung anzuſprechen, der nicht Religion hat! Das wahrhaft Bildende iſt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/289>, abgerufen am 25.11.2024.