ernst schlimme oder humoristisch schlimme. Häufiger Ersteres.
Ich sah auf einer Dachrinne ein Schwälbchen sitzen, das flügge war, aber noch nicht jagen konnte. Es wurde von den Alten geäzt, die mit Tausenden in der Luft herumschwirrten. Das Junge sah immer wartend in die Höhe und schüttelte mit der bekannten Bittgeberde die Flügel, wenn eines der Alten herbei¬ geflogen kam. Es erkannte aber dieselben auf weite Ferne, wenn sie sich noch mitten in der schwärmenden Schwalbenmenge befanden, und dieß Erkennen ließ sich mit Sicherheit beobachten, denn niemals schüttelte es die Flügel, ohne daß bald nachher eines der Alten mit Futter eingetroffen wäre. An was nun aber? Unmöglich an etwas Anderem, als an individuellen Eigenheiten in der Flugbewegung, die kein Menschen¬ auge je entdecken könnte. Unbegreiflich! Da fiel mir aber ein, daß wir unsersgleichen an Eigenheiten der Handschrift erkennen, die um nichts bestimmbarer sind, als jene im Flug eines Vogels. Es gibt kein Maß für die Unterschiede der Führung der Feder bei Schreibung eines Buchstabs, sie sind nicht minder fein, als der Bogen oder Haken, wie diese und keine andere Schwalbe ihn beschreibt, oder die Art der Tragung oder der besondere Umriß ihres Flügels, und doch, wenn uns
ernſt ſchlimme oder humoriſtiſch ſchlimme. Häufiger Erſteres.
Ich ſah auf einer Dachrinne ein Schwälbchen ſitzen, das flügge war, aber noch nicht jagen konnte. Es wurde von den Alten geäzt, die mit Tauſenden in der Luft herumſchwirrten. Das Junge ſah immer wartend in die Höhe und ſchüttelte mit der bekannten Bittgeberde die Flügel, wenn eines der Alten herbei¬ geflogen kam. Es erkannte aber dieſelben auf weite Ferne, wenn ſie ſich noch mitten in der ſchwärmenden Schwalbenmenge befanden, und dieß Erkennen ließ ſich mit Sicherheit beobachten, denn niemals ſchüttelte es die Flügel, ohne daß bald nachher eines der Alten mit Futter eingetroffen wäre. An was nun aber? Unmöglich an etwas Anderem, als an individuellen Eigenheiten in der Flugbewegung, die kein Menſchen¬ auge je entdecken könnte. Unbegreiflich! Da fiel mir aber ein, daß wir unſersgleichen an Eigenheiten der Handſchrift erkennen, die um nichts beſtimmbarer ſind, als jene im Flug eines Vogels. Es gibt kein Maß für die Unterſchiede der Führung der Feder bei Schreibung eines Buchſtabs, ſie ſind nicht minder fein, als der Bogen oder Haken, wie dieſe und keine andere Schwalbe ihn beſchreibt, oder die Art der Tragung oder der beſondere Umriß ihres Flügels, und doch, wenn uns
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ernſt ſchlimme oder humoriſtiſch ſchlimme. Häufiger
Erſteres.
Ich ſah auf einer Dachrinne ein Schwälbchen
ſitzen, das flügge war, aber noch nicht jagen konnte.
Es wurde von den Alten geäzt, die mit Tauſenden
in der Luft herumſchwirrten. Das Junge ſah immer
wartend in die Höhe und ſchüttelte mit der bekannten
Bittgeberde die Flügel, wenn eines der Alten herbei¬
geflogen kam. Es erkannte aber dieſelben auf weite
Ferne, wenn ſie ſich noch mitten in der ſchwärmenden
Schwalbenmenge befanden, und dieß Erkennen ließ
ſich mit Sicherheit beobachten, denn niemals ſchüttelte
es die Flügel, ohne daß bald nachher eines der Alten
mit Futter eingetroffen wäre. An was nun aber?
Unmöglich an etwas Anderem, als an individuellen
Eigenheiten in der Flugbewegung, die kein Menſchen¬
auge je entdecken könnte. Unbegreiflich! Da fiel mir
aber ein, daß wir unſersgleichen an Eigenheiten der
Handſchrift erkennen, die um nichts beſtimmbarer ſind,
als jene im Flug eines Vogels. Es gibt kein Maß
für die Unterſchiede der Führung der Feder bei Schreibung
eines Buchſtabs, ſie ſind nicht minder fein, als der
Bogen oder Haken, wie dieſe und keine andere Schwalbe
ihn beſchreibt, oder die Art der Tragung oder der
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Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/306>, abgerufen am 24.11.2024.
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