steifen Würde herausgeholfen. Das ist die beste Ent¬ schuldigung für die seltsame Feierlichkeit, die er nach und nach annahm. Als ein Sohn der Natur und Phantasie konnte er sich nicht gehen lassen, ohne Formen zu verletzen; da konnte ihn nur der Zwang retten, den er sich so lang anthat, bis er ihm saß wie ein getragener Rock. Seine Steifheit beweist also ihr Gegentheil in Goethe's Natur. Wer über die Form erhaben ist, ist ängstlich in ihr.
Es gibt zweierlei Takt: formellen und Herzens¬ takt. Jener vermeidet das Unschickliche, dieser das Unzarte. Es ist schwer, den ersten sich zu erwerben, er lernt sich nur durch lange gesellige Uebung. Es ist ungefähr wie vier- oder sechsspännig fahren lernen. Der Taktlose gibt nur auf die zwei ersten Pferde Acht, und sieht nicht, ob die vordersten irgendwo anrennen; wer Takt hat, sieht immer auf alle vier oder sechs. Der Herzens- oder Seelentakt aber läßt sich nicht erlernen, man hat ihn oder nicht. Man kann ihn haben und den formellen nicht, man kann diesen haben, ja sehr haben und keine Spur vom Herzens¬ takt. Gar Manche fahren ganz sicher und geschickt, rennen nie an einen Eckstein, aber es gibt unsicht¬ bare Ecksteine, das sind die zartesten Empfindungen der Menschen, die wir schonen sollen, wir müssen
ſteifen Würde herausgeholfen. Das iſt die beſte Ent¬ ſchuldigung für die ſeltſame Feierlichkeit, die er nach und nach annahm. Als ein Sohn der Natur und Phantaſie konnte er ſich nicht gehen laſſen, ohne Formen zu verletzen; da konnte ihn nur der Zwang retten, den er ſich ſo lang anthat, bis er ihm ſaß wie ein getragener Rock. Seine Steifheit beweist alſo ihr Gegentheil in Goethe's Natur. Wer über die Form erhaben iſt, iſt ängſtlich in ihr.
Es gibt zweierlei Takt: formellen und Herzens¬ takt. Jener vermeidet das Unſchickliche, dieſer das Unzarte. Es iſt ſchwer, den erſten ſich zu erwerben, er lernt ſich nur durch lange geſellige Uebung. Es iſt ungefähr wie vier- oder ſechsſpännig fahren lernen. Der Taktloſe gibt nur auf die zwei erſten Pferde Acht, und ſieht nicht, ob die vorderſten irgendwo anrennen; wer Takt hat, ſieht immer auf alle vier oder ſechs. Der Herzens- oder Seelentakt aber läßt ſich nicht erlernen, man hat ihn oder nicht. Man kann ihn haben und den formellen nicht, man kann dieſen haben, ja ſehr haben und keine Spur vom Herzens¬ takt. Gar Manche fahren ganz ſicher und geſchickt, rennen nie an einen Eckſtein, aber es gibt unſicht¬ bare Eckſteine, das ſind die zarteſten Empfindungen der Menſchen, die wir ſchonen ſollen, wir müſſen
<TEI><text><body><div><p><pbfacs="#f0313"n="300"/>ſteifen Würde herausgeholfen. Das iſt die beſte Ent¬<lb/>ſchuldigung für die ſeltſame Feierlichkeit, die er nach<lb/>
und nach annahm. Als ein Sohn der Natur und<lb/>
Phantaſie konnte er ſich nicht gehen laſſen, ohne<lb/>
Formen zu verletzen; da konnte ihn nur der Zwang<lb/>
retten, den er ſich ſo lang anthat, bis er ihm ſaß<lb/>
wie ein getragener Rock. Seine Steifheit beweist alſo<lb/>
ihr Gegentheil in Goethe's Natur. Wer über die<lb/>
Form erhaben iſt, iſt ängſtlich in ihr.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Es gibt zweierlei Takt: formellen und Herzens¬<lb/>
takt. Jener vermeidet das Unſchickliche, dieſer das<lb/>
Unzarte. Es iſt ſchwer, den erſten ſich zu erwerben,<lb/>
er lernt ſich nur durch lange geſellige Uebung. Es<lb/>
iſt ungefähr wie vier- oder ſechsſpännig fahren lernen.<lb/>
Der Taktloſe gibt nur auf die zwei erſten Pferde Acht,<lb/>
und ſieht nicht, ob die vorderſten irgendwo anrennen;<lb/>
wer Takt hat, ſieht immer auf alle vier oder ſechs.<lb/>
Der Herzens- oder Seelentakt aber läßt ſich nicht<lb/>
erlernen, man hat ihn oder nicht. Man kann<lb/>
ihn haben und den formellen nicht, man kann dieſen<lb/>
haben, ja ſehr haben und keine Spur vom Herzens¬<lb/>
takt. Gar Manche fahren ganz ſicher und geſchickt,<lb/>
rennen nie an einen Eckſtein, aber es gibt unſicht¬<lb/>
bare Eckſteine, das ſind die zarteſten Empfindungen<lb/>
der Menſchen, die wir ſchonen ſollen, wir müſſen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[300/0313]
ſteifen Würde herausgeholfen. Das iſt die beſte Ent¬
ſchuldigung für die ſeltſame Feierlichkeit, die er nach
und nach annahm. Als ein Sohn der Natur und
Phantaſie konnte er ſich nicht gehen laſſen, ohne
Formen zu verletzen; da konnte ihn nur der Zwang
retten, den er ſich ſo lang anthat, bis er ihm ſaß
wie ein getragener Rock. Seine Steifheit beweist alſo
ihr Gegentheil in Goethe's Natur. Wer über die
Form erhaben iſt, iſt ängſtlich in ihr.
Es gibt zweierlei Takt: formellen und Herzens¬
takt. Jener vermeidet das Unſchickliche, dieſer das
Unzarte. Es iſt ſchwer, den erſten ſich zu erwerben,
er lernt ſich nur durch lange geſellige Uebung. Es
iſt ungefähr wie vier- oder ſechsſpännig fahren lernen.
Der Taktloſe gibt nur auf die zwei erſten Pferde Acht,
und ſieht nicht, ob die vorderſten irgendwo anrennen;
wer Takt hat, ſieht immer auf alle vier oder ſechs.
Der Herzens- oder Seelentakt aber läßt ſich nicht
erlernen, man hat ihn oder nicht. Man kann
ihn haben und den formellen nicht, man kann dieſen
haben, ja ſehr haben und keine Spur vom Herzens¬
takt. Gar Manche fahren ganz ſicher und geſchickt,
rennen nie an einen Eckſtein, aber es gibt unſicht¬
bare Eckſteine, das ſind die zarteſten Empfindungen
der Menſchen, die wir ſchonen ſollen, wir müſſen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/313>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.