Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

steifen Würde herausgeholfen. Das ist die beste Ent¬
schuldigung für die seltsame Feierlichkeit, die er nach
und nach annahm. Als ein Sohn der Natur und
Phantasie konnte er sich nicht gehen lassen, ohne
Formen zu verletzen; da konnte ihn nur der Zwang
retten, den er sich so lang anthat, bis er ihm saß
wie ein getragener Rock. Seine Steifheit beweist also
ihr Gegentheil in Goethe's Natur. Wer über die
Form erhaben ist, ist ängstlich in ihr.


Es gibt zweierlei Takt: formellen und Herzens¬
takt. Jener vermeidet das Unschickliche, dieser das
Unzarte. Es ist schwer, den ersten sich zu erwerben,
er lernt sich nur durch lange gesellige Uebung. Es
ist ungefähr wie vier- oder sechsspännig fahren lernen.
Der Taktlose gibt nur auf die zwei ersten Pferde Acht,
und sieht nicht, ob die vordersten irgendwo anrennen;
wer Takt hat, sieht immer auf alle vier oder sechs.
Der Herzens- oder Seelentakt aber läßt sich nicht
erlernen, man hat ihn oder nicht. Man kann
ihn haben und den formellen nicht, man kann diesen
haben, ja sehr haben und keine Spur vom Herzens¬
takt. Gar Manche fahren ganz sicher und geschickt,
rennen nie an einen Eckstein, aber es gibt unsicht¬
bare Ecksteine, das sind die zartesten Empfindungen
der Menschen, die wir schonen sollen, wir müssen

ſteifen Würde herausgeholfen. Das iſt die beſte Ent¬
ſchuldigung für die ſeltſame Feierlichkeit, die er nach
und nach annahm. Als ein Sohn der Natur und
Phantaſie konnte er ſich nicht gehen laſſen, ohne
Formen zu verletzen; da konnte ihn nur der Zwang
retten, den er ſich ſo lang anthat, bis er ihm ſaß
wie ein getragener Rock. Seine Steifheit beweist alſo
ihr Gegentheil in Goethe's Natur. Wer über die
Form erhaben iſt, iſt ängſtlich in ihr.


Es gibt zweierlei Takt: formellen und Herzens¬
takt. Jener vermeidet das Unſchickliche, dieſer das
Unzarte. Es iſt ſchwer, den erſten ſich zu erwerben,
er lernt ſich nur durch lange geſellige Uebung. Es
iſt ungefähr wie vier- oder ſechsſpännig fahren lernen.
Der Taktloſe gibt nur auf die zwei erſten Pferde Acht,
und ſieht nicht, ob die vorderſten irgendwo anrennen;
wer Takt hat, ſieht immer auf alle vier oder ſechs.
Der Herzens- oder Seelentakt aber läßt ſich nicht
erlernen, man hat ihn oder nicht. Man kann
ihn haben und den formellen nicht, man kann dieſen
haben, ja ſehr haben und keine Spur vom Herzens¬
takt. Gar Manche fahren ganz ſicher und geſchickt,
rennen nie an einen Eckſtein, aber es gibt unſicht¬
bare Eckſteine, das ſind die zarteſten Empfindungen
der Menſchen, die wir ſchonen ſollen, wir müſſen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0313" n="300"/>
&#x017F;teifen Würde herausgeholfen. Das i&#x017F;t die be&#x017F;te Ent¬<lb/>
&#x017F;chuldigung für die &#x017F;elt&#x017F;ame Feierlichkeit, die er nach<lb/>
und nach annahm. Als ein Sohn der Natur und<lb/>
Phanta&#x017F;ie konnte er &#x017F;ich nicht gehen la&#x017F;&#x017F;en, ohne<lb/>
Formen zu verletzen; da konnte ihn nur der Zwang<lb/>
retten, den er &#x017F;ich &#x017F;o lang anthat, bis er ihm &#x017F;<lb/>
wie ein getragener Rock. Seine Steifheit beweist al&#x017F;o<lb/>
ihr Gegentheil in Goethe's Natur. Wer über die<lb/>
Form erhaben i&#x017F;t, i&#x017F;t äng&#x017F;tlich in ihr.</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Es gibt zweierlei Takt: formellen und Herzens¬<lb/>
takt. Jener vermeidet das Un&#x017F;chickliche, die&#x017F;er das<lb/>
Unzarte. Es i&#x017F;t &#x017F;chwer, den er&#x017F;ten &#x017F;ich zu erwerben,<lb/>
er lernt &#x017F;ich nur durch lange ge&#x017F;ellige Uebung. Es<lb/>
i&#x017F;t ungefähr wie vier- oder &#x017F;echs&#x017F;pännig fahren lernen.<lb/>
Der Taktlo&#x017F;e gibt nur auf die zwei er&#x017F;ten Pferde Acht,<lb/>
und &#x017F;ieht nicht, ob die vorder&#x017F;ten irgendwo anrennen;<lb/>
wer Takt hat, &#x017F;ieht immer auf alle vier oder &#x017F;echs.<lb/>
Der Herzens- oder Seelentakt aber läßt &#x017F;ich nicht<lb/>
erlernen, man hat ihn oder nicht. Man kann<lb/>
ihn haben und den formellen nicht, man kann die&#x017F;en<lb/>
haben, ja &#x017F;ehr haben und keine Spur vom Herzens¬<lb/>
takt. Gar Manche fahren ganz &#x017F;icher und ge&#x017F;chickt,<lb/>
rennen nie an einen Eck&#x017F;tein, aber es gibt un&#x017F;icht¬<lb/>
bare Eck&#x017F;teine, das &#x017F;ind die zarte&#x017F;ten Empfindungen<lb/>
der Men&#x017F;chen, die wir &#x017F;chonen &#x017F;ollen, wir mü&#x017F;&#x017F;en<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[300/0313] ſteifen Würde herausgeholfen. Das iſt die beſte Ent¬ ſchuldigung für die ſeltſame Feierlichkeit, die er nach und nach annahm. Als ein Sohn der Natur und Phantaſie konnte er ſich nicht gehen laſſen, ohne Formen zu verletzen; da konnte ihn nur der Zwang retten, den er ſich ſo lang anthat, bis er ihm ſaß wie ein getragener Rock. Seine Steifheit beweist alſo ihr Gegentheil in Goethe's Natur. Wer über die Form erhaben iſt, iſt ängſtlich in ihr. Es gibt zweierlei Takt: formellen und Herzens¬ takt. Jener vermeidet das Unſchickliche, dieſer das Unzarte. Es iſt ſchwer, den erſten ſich zu erwerben, er lernt ſich nur durch lange geſellige Uebung. Es iſt ungefähr wie vier- oder ſechsſpännig fahren lernen. Der Taktloſe gibt nur auf die zwei erſten Pferde Acht, und ſieht nicht, ob die vorderſten irgendwo anrennen; wer Takt hat, ſieht immer auf alle vier oder ſechs. Der Herzens- oder Seelentakt aber läßt ſich nicht erlernen, man hat ihn oder nicht. Man kann ihn haben und den formellen nicht, man kann dieſen haben, ja ſehr haben und keine Spur vom Herzens¬ takt. Gar Manche fahren ganz ſicher und geſchickt, rennen nie an einen Eckſtein, aber es gibt unſicht¬ bare Eckſteine, das ſind die zarteſten Empfindungen der Menſchen, die wir ſchonen ſollen, wir müſſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/313
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/313>, abgerufen am 24.11.2024.