Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

hervorbringen. Daher ruft Kent beim Anblick Lear's,
der die todte Cordelia auf seinen Armen geschleppt
bringt: "Ist dieß das prophezeite Weltende?" und setzt
Edgar hinzu: "Ist's ein Vorbild jener Schrecken?"
und Albanien: "Des allgemeinen Untergangs?"


Und dieser Unerreichbare ist mit den argen, argen
Flecken behaftet: Aberwitz und eckelhafte Zoten! Der
letztere wird von den Anbetern nicht geleugnet, der
erstere etwa einmal so zugegeben, wie man mit be¬
dientenhafter Art von Respekt ein Mängelchen an
Erdengöttern zugibt. Was ich doch aber auch nicht
ausstehen kann, ist die Pietätsmichelei. An großen
Männern werden zu Götzendienern Alle und Jede, die
keine Spur verwandten Geistes in sich fühlen. So
entsteht der Nimbus. Die Menschen müssen Götter
haben. Es ist wohl wahr, daß die Sprache arm ist,
eine Bewunderung auszudrücken, wie wir sie für so
große Genien fühlen, sie kann fast nicht umhin, zu
vergöttlichenden Namen zu greifen. Aber wer ihres
Geists auch nur ein Tröpfchen in sich spürt, wird dar¬
über nie und nimmer unkritisch werden, ja er wird
gegen wirklich entstellende Flecken noch schärfer los¬
gehen, als bei gewöhnlichen Sterblichen, denn der Be¬
wunderte hat schwerere Verantwortung, als andere
Menschenkinder. Gegen Mittelgut, wofern es bescheiden

hervorbringen. Daher ruft Kent beim Anblick Lear's,
der die todte Cordelia auf ſeinen Armen geſchleppt
bringt: „Iſt dieß das prophezeite Weltende?“ und ſetzt
Edgar hinzu: „Iſt's ein Vorbild jener Schrecken?“
und Albanien: „Des allgemeinen Untergangs?“


Und dieſer Unerreichbare iſt mit den argen, argen
Flecken behaftet: Aberwitz und eckelhafte Zoten! Der
letztere wird von den Anbetern nicht geleugnet, der
erſtere etwa einmal ſo zugegeben, wie man mit be¬
dientenhafter Art von Reſpekt ein Mängelchen an
Erdengöttern zugibt. Was ich doch aber auch nicht
ausſtehen kann, iſt die Pietätsmichelei. An großen
Männern werden zu Götzendienern Alle und Jede, die
keine Spur verwandten Geiſtes in ſich fühlen. So
entſteht der Nimbus. Die Menſchen müſſen Götter
haben. Es iſt wohl wahr, daß die Sprache arm iſt,
eine Bewunderung auszudrücken, wie wir ſie für ſo
große Genien fühlen, ſie kann faſt nicht umhin, zu
vergöttlichenden Namen zu greifen. Aber wer ihres
Geiſts auch nur ein Tröpfchen in ſich ſpürt, wird dar¬
über nie und nimmer unkritiſch werden, ja er wird
gegen wirklich entſtellende Flecken noch ſchärfer los¬
gehen, als bei gewöhnlichen Sterblichen, denn der Be¬
wunderte hat ſchwerere Verantwortung, als andere
Menſchenkinder. Gegen Mittelgut, wofern es beſcheiden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0364" n="351"/>
hervorbringen. Daher ruft Kent beim Anblick Lear's,<lb/>
der die todte Cordelia auf &#x017F;einen Armen ge&#x017F;chleppt<lb/>
bringt: &#x201E;I&#x017F;t dieß das prophezeite Weltende?&#x201C; und &#x017F;etzt<lb/>
Edgar hinzu: &#x201E;I&#x017F;t's ein Vorbild jener Schrecken?&#x201C;<lb/>
und Albanien: &#x201E;Des allgemeinen Untergangs?&#x201C;</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Und die&#x017F;er Unerreichbare i&#x017F;t mit den argen, argen<lb/>
Flecken behaftet: Aberwitz und eckelhafte Zoten! Der<lb/>
letztere wird von den Anbetern nicht geleugnet, der<lb/>
er&#x017F;tere etwa einmal &#x017F;o zugegeben, wie man mit be¬<lb/>
dientenhafter Art von Re&#x017F;pekt ein Mängelchen an<lb/>
Erdengöttern zugibt. Was ich doch aber auch nicht<lb/>
aus&#x017F;tehen kann, i&#x017F;t die Pietätsmichelei. An großen<lb/>
Männern werden zu Götzendienern Alle und Jede, die<lb/>
keine Spur verwandten Gei&#x017F;tes in &#x017F;ich fühlen. So<lb/>
ent&#x017F;teht der Nimbus. Die Men&#x017F;chen mü&#x017F;&#x017F;en Götter<lb/>
haben. Es i&#x017F;t wohl wahr, daß die Sprache arm i&#x017F;t,<lb/>
eine Bewunderung auszudrücken, wie wir &#x017F;ie für &#x017F;o<lb/>
große Genien fühlen, &#x017F;ie kann fa&#x017F;t nicht umhin, zu<lb/>
vergöttlichenden Namen zu greifen. Aber wer ihres<lb/>
Gei&#x017F;ts auch nur ein Tröpfchen in &#x017F;ich &#x017F;pürt, wird dar¬<lb/>
über nie und nimmer unkriti&#x017F;ch werden, ja er wird<lb/>
gegen wirklich ent&#x017F;tellende Flecken noch &#x017F;chärfer los¬<lb/>
gehen, als bei gewöhnlichen Sterblichen, denn der Be¬<lb/>
wunderte hat &#x017F;chwerere Verantwortung, als andere<lb/>
Men&#x017F;chenkinder. Gegen Mittelgut, wofern es be&#x017F;cheiden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[351/0364] hervorbringen. Daher ruft Kent beim Anblick Lear's, der die todte Cordelia auf ſeinen Armen geſchleppt bringt: „Iſt dieß das prophezeite Weltende?“ und ſetzt Edgar hinzu: „Iſt's ein Vorbild jener Schrecken?“ und Albanien: „Des allgemeinen Untergangs?“ Und dieſer Unerreichbare iſt mit den argen, argen Flecken behaftet: Aberwitz und eckelhafte Zoten! Der letztere wird von den Anbetern nicht geleugnet, der erſtere etwa einmal ſo zugegeben, wie man mit be¬ dientenhafter Art von Reſpekt ein Mängelchen an Erdengöttern zugibt. Was ich doch aber auch nicht ausſtehen kann, iſt die Pietätsmichelei. An großen Männern werden zu Götzendienern Alle und Jede, die keine Spur verwandten Geiſtes in ſich fühlen. So entſteht der Nimbus. Die Menſchen müſſen Götter haben. Es iſt wohl wahr, daß die Sprache arm iſt, eine Bewunderung auszudrücken, wie wir ſie für ſo große Genien fühlen, ſie kann faſt nicht umhin, zu vergöttlichenden Namen zu greifen. Aber wer ihres Geiſts auch nur ein Tröpfchen in ſich ſpürt, wird dar¬ über nie und nimmer unkritiſch werden, ja er wird gegen wirklich entſtellende Flecken noch ſchärfer los¬ gehen, als bei gewöhnlichen Sterblichen, denn der Be¬ wunderte hat ſchwerere Verantwortung, als andere Menſchenkinder. Gegen Mittelgut, wofern es beſcheiden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/364
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/364>, abgerufen am 22.11.2024.