Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Schneidung der Linien, auf denen die Natur und die
Geisteswelt ihre Thätigkeiten, jede an sich gesetzmäßig,
ausüben. Nun aber sind alle diesen zwei Gebieten
angehörigen Kräfte stets beschäftigt, den Zufall zu
verarbeiten: das Günstige, das er bringt, zu benützen,
auszubilden, das Uebel zu überwinden, zu heilen, selbst
zum Gute und Guten zu kehren. Einen Mann, der
verdienstvoll wirkt, der Familienvater ist, tödtet ein
Ziegel, der vom Dache fällt. Der Unfall spornt seine
Söhne, der Mutter eine Stütze zu werden, der Staat
strengt Kräfte an, die Lücke auszufüllen. Es kann
auch schlimm gehen, beides nicht geschehen, dann wird
das weitere Unglück Kräfte wecken. Es ist ein un¬
endliches Netz, ein unendliches Weben. Das ganze
Leben, die ganze Geschichte ist Verarbeitung des Zu¬
falls. Er wird in das Reich des Naturwirkens und
des menschlichen Denkens, Willens und Thuns hinein
stetig verarbeitet. Vorher, in seinem Eintreten, ist er
blind, nachher wird er eine von sehenden Augen ge¬
flochtene Masche im unendlichen Netze der Thätigkeiten.
Also eigentlich Nachsehung. Aber da die Zeit eigent¬
lich nur Schein ist, so ist das "Nach" auch falsch, so
falsch wie das "Vor". Soll man etwa einfach sagen:
Sehung? Zusehung? Nicht das Auge eines persön¬
lichen Gottes, aber unzählige Augen sehen den blinden
Zufall und ihnen dienen unzählige Kräfte, etwas aus
ihm zu machen, was er in seiner Entstehung nicht ist.

Schneidung der Linien, auf denen die Natur und die
Geiſteswelt ihre Thätigkeiten, jede an ſich geſetzmäßig,
ausüben. Nun aber ſind alle dieſen zwei Gebieten
angehörigen Kräfte ſtets beſchäftigt, den Zufall zu
verarbeiten: das Günſtige, das er bringt, zu benützen,
auszubilden, das Uebel zu überwinden, zu heilen, ſelbſt
zum Gute und Guten zu kehren. Einen Mann, der
verdienſtvoll wirkt, der Familienvater iſt, tödtet ein
Ziegel, der vom Dache fällt. Der Unfall ſpornt ſeine
Söhne, der Mutter eine Stütze zu werden, der Staat
ſtrengt Kräfte an, die Lücke auszufüllen. Es kann
auch ſchlimm gehen, beides nicht geſchehen, dann wird
das weitere Unglück Kräfte wecken. Es iſt ein un¬
endliches Netz, ein unendliches Weben. Das ganze
Leben, die ganze Geſchichte iſt Verarbeitung des Zu¬
falls. Er wird in das Reich des Naturwirkens und
des menſchlichen Denkens, Willens und Thuns hinein
ſtetig verarbeitet. Vorher, in ſeinem Eintreten, iſt er
blind, nachher wird er eine von ſehenden Augen ge¬
flochtene Maſche im unendlichen Netze der Thätigkeiten.
Alſo eigentlich Nachſehung. Aber da die Zeit eigent¬
lich nur Schein iſt, ſo iſt das „Nach“ auch falſch, ſo
falſch wie das „Vor“. Soll man etwa einfach ſagen:
Sehung? Zuſehung? Nicht das Auge eines perſön¬
lichen Gottes, aber unzählige Augen ſehen den blinden
Zufall und ihnen dienen unzählige Kräfte, etwas aus
ihm zu machen, was er in ſeiner Entſtehung nicht iſt.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0377" n="364"/>
Schneidung der Linien, auf denen die Natur und die<lb/>
Gei&#x017F;teswelt ihre Thätigkeiten, jede an &#x017F;ich ge&#x017F;etzmäßig,<lb/>
ausüben. Nun aber &#x017F;ind alle die&#x017F;en zwei Gebieten<lb/>
angehörigen Kräfte &#x017F;tets be&#x017F;chäftigt, den Zufall zu<lb/>
verarbeiten: das Gün&#x017F;tige, das er bringt, zu benützen,<lb/>
auszubilden, das Uebel zu überwinden, zu heilen, &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
zum Gute und Guten zu kehren. Einen Mann, der<lb/>
verdien&#x017F;tvoll wirkt, der Familienvater i&#x017F;t, tödtet ein<lb/>
Ziegel, der vom Dache fällt. Der Unfall &#x017F;pornt &#x017F;eine<lb/>
Söhne, der Mutter eine Stütze zu werden, der Staat<lb/>
&#x017F;trengt Kräfte an, die Lücke auszufüllen. Es kann<lb/>
auch &#x017F;chlimm gehen, beides nicht ge&#x017F;chehen, dann wird<lb/>
das weitere Unglück Kräfte wecken. Es i&#x017F;t ein un¬<lb/>
endliches Netz, ein unendliches Weben. Das ganze<lb/>
Leben, die ganze Ge&#x017F;chichte i&#x017F;t Verarbeitung des Zu¬<lb/>
falls. Er wird in das Reich des Naturwirkens und<lb/>
des men&#x017F;chlichen Denkens, Willens und Thuns hinein<lb/>
&#x017F;tetig verarbeitet. Vorher, in &#x017F;einem Eintreten, i&#x017F;t er<lb/>
blind, nachher wird er eine von &#x017F;ehenden Augen ge¬<lb/>
flochtene Ma&#x017F;che im unendlichen Netze der Thätigkeiten.<lb/>
Al&#x017F;o eigentlich Nach&#x017F;ehung. Aber da die Zeit eigent¬<lb/>
lich nur Schein i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t das &#x201E;Nach&#x201C; auch fal&#x017F;ch, &#x017F;o<lb/>
fal&#x017F;ch wie das &#x201E;Vor&#x201C;. Soll man etwa einfach &#x017F;agen:<lb/>
Sehung? Zu&#x017F;ehung? Nicht das Auge eines per&#x017F;ön¬<lb/>
lichen Gottes, aber unzählige Augen &#x017F;ehen den blinden<lb/>
Zufall und ihnen dienen unzählige Kräfte, etwas aus<lb/>
ihm zu machen, was er in &#x017F;einer Ent&#x017F;tehung nicht i&#x017F;t.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[364/0377] Schneidung der Linien, auf denen die Natur und die Geiſteswelt ihre Thätigkeiten, jede an ſich geſetzmäßig, ausüben. Nun aber ſind alle dieſen zwei Gebieten angehörigen Kräfte ſtets beſchäftigt, den Zufall zu verarbeiten: das Günſtige, das er bringt, zu benützen, auszubilden, das Uebel zu überwinden, zu heilen, ſelbſt zum Gute und Guten zu kehren. Einen Mann, der verdienſtvoll wirkt, der Familienvater iſt, tödtet ein Ziegel, der vom Dache fällt. Der Unfall ſpornt ſeine Söhne, der Mutter eine Stütze zu werden, der Staat ſtrengt Kräfte an, die Lücke auszufüllen. Es kann auch ſchlimm gehen, beides nicht geſchehen, dann wird das weitere Unglück Kräfte wecken. Es iſt ein un¬ endliches Netz, ein unendliches Weben. Das ganze Leben, die ganze Geſchichte iſt Verarbeitung des Zu¬ falls. Er wird in das Reich des Naturwirkens und des menſchlichen Denkens, Willens und Thuns hinein ſtetig verarbeitet. Vorher, in ſeinem Eintreten, iſt er blind, nachher wird er eine von ſehenden Augen ge¬ flochtene Maſche im unendlichen Netze der Thätigkeiten. Alſo eigentlich Nachſehung. Aber da die Zeit eigent¬ lich nur Schein iſt, ſo iſt das „Nach“ auch falſch, ſo falſch wie das „Vor“. Soll man etwa einfach ſagen: Sehung? Zuſehung? Nicht das Auge eines perſön¬ lichen Gottes, aber unzählige Augen ſehen den blinden Zufall und ihnen dienen unzählige Kräfte, etwas aus ihm zu machen, was er in ſeiner Entſtehung nicht iſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/377
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/377>, abgerufen am 22.11.2024.