ein paar Abende zugebracht habe. Gern sagte ich zu und begab mich zu Frau Hedwig.
Ich traf die trauernde Frau im Helldunkel der Dämmerung ohne Licht. Wie manche Abendstunden mochte sie so zugebracht haben, still in Gedanken an den Todten! Sie ermunterte sich bei meinem Eintritt, ließ die Lampe anzünden und begann Thee zu be¬ reiten. "Er mochte ihn nicht," sagte sie dazwischen; ich gestand, daß ich es darin mit ihm halte, sie schien das erwartet zu haben und stellte mir ein schweres geschliffenes Glas hin mit den Worten: "Sie sollen seinen Wein aus seinem Tischglas trinken." Als ich durch die erhellte dunkelrothe Flut auf den Grund des Gefäßes sah, fiel mir Justinus Kerner's schönes Ge¬ dicht auf das Trinkglas eines Freundes ein, ich ge¬ dachte dieser liebenswürdigen Dichternatur, und erfuhr von Frau Hedwig, daß A. E. in seiner Abendgesell¬ schaft ein paarmal sich für ihn verstritten habe. "Die Menschen," sagte er einmal beim Frühstück nach einem solchen Zanke, "wissen doch auch von nichts als von Alternativen! Entweder, oder, so steht's in ihren Zwischenwandköpfen! Entweder Betrüger oder Narr! Keiner wollte begreifen, daß der Mann mit einem Fuß im Geisterwesen stand, mit dem andern heraus war. Logische Konsequenz fordern von einem Poeten, dessen bestes Talent ein ungemein herrlicher, grund¬ naiver und doch freier Phantasiesinn für's Verrückte
ein paar Abende zugebracht habe. Gern ſagte ich zu und begab mich zu Frau Hedwig.
Ich traf die trauernde Frau im Helldunkel der Dämmerung ohne Licht. Wie manche Abendſtunden mochte ſie ſo zugebracht haben, ſtill in Gedanken an den Todten! Sie ermunterte ſich bei meinem Eintritt, ließ die Lampe anzünden und begann Thee zu be¬ reiten. „Er mochte ihn nicht,“ ſagte ſie dazwiſchen; ich geſtand, daß ich es darin mit ihm halte, ſie ſchien das erwartet zu haben und ſtellte mir ein ſchweres geſchliffenes Glas hin mit den Worten: „Sie ſollen ſeinen Wein aus ſeinem Tiſchglas trinken.“ Als ich durch die erhellte dunkelrothe Flut auf den Grund des Gefäßes ſah, fiel mir Juſtinus Kerner's ſchönes Ge¬ dicht auf das Trinkglas eines Freundes ein, ich ge¬ dachte dieſer liebenswürdigen Dichternatur, und erfuhr von Frau Hedwig, daß A. E. in ſeiner Abendgeſell¬ ſchaft ein paarmal ſich für ihn verſtritten habe. „Die Menſchen,“ ſagte er einmal beim Frühſtück nach einem ſolchen Zanke, „wiſſen doch auch von nichts als von Alternativen! Entweder, oder, ſo ſteht's in ihren Zwiſchenwandköpfen! Entweder Betrüger oder Narr! Keiner wollte begreifen, daß der Mann mit einem Fuß im Geiſterweſen ſtand, mit dem andern heraus war. Logiſche Konſequenz fordern von einem Poeten, deſſen beſtes Talent ein ungemein herrlicher, grund¬ naiver und doch freier Phantaſieſinn für's Verrückte
<TEI><text><body><p><pbfacs="#f0055"n="42"/>
ein paar Abende zugebracht habe. Gern ſagte ich zu<lb/>
und begab mich zu Frau Hedwig.</p><lb/><p>Ich traf die trauernde Frau im Helldunkel der<lb/>
Dämmerung ohne Licht. Wie manche Abendſtunden<lb/>
mochte ſie ſo zugebracht haben, ſtill in Gedanken an<lb/>
den Todten! Sie ermunterte ſich bei meinem Eintritt,<lb/>
ließ die Lampe anzünden und begann Thee zu be¬<lb/>
reiten. „Er mochte ihn nicht,“ſagte ſie dazwiſchen;<lb/>
ich geſtand, daß ich es darin mit ihm halte, ſie ſchien<lb/>
das erwartet zu haben und ſtellte mir ein ſchweres<lb/>
geſchliffenes Glas hin mit den Worten: „Sie ſollen<lb/>ſeinen Wein aus ſeinem Tiſchglas trinken.“ Als ich<lb/>
durch die erhellte dunkelrothe Flut auf den Grund des<lb/>
Gefäßes ſah, fiel mir Juſtinus Kerner's ſchönes Ge¬<lb/>
dicht auf das Trinkglas eines Freundes ein, ich ge¬<lb/>
dachte dieſer liebenswürdigen Dichternatur, und erfuhr<lb/>
von Frau Hedwig, daß A. E. in ſeiner Abendgeſell¬<lb/>ſchaft ein paarmal ſich für ihn verſtritten habe. „Die<lb/>
Menſchen,“ſagte er einmal beim Frühſtück nach einem<lb/>ſolchen Zanke, „wiſſen doch auch von nichts als von<lb/>
Alternativen! Entweder, oder, ſo ſteht's in ihren<lb/>
Zwiſchenwandköpfen! Entweder Betrüger oder Narr!<lb/>
Keiner wollte begreifen, daß der Mann mit einem<lb/>
Fuß im Geiſterweſen ſtand, mit dem andern heraus<lb/>
war. Logiſche Konſequenz fordern von einem Poeten,<lb/>
deſſen beſtes Talent ein ungemein herrlicher, grund¬<lb/>
naiver und doch freier Phantaſieſinn für's Verrückte<lb/></p></body></text></TEI>
[42/0055]
ein paar Abende zugebracht habe. Gern ſagte ich zu
und begab mich zu Frau Hedwig.
Ich traf die trauernde Frau im Helldunkel der
Dämmerung ohne Licht. Wie manche Abendſtunden
mochte ſie ſo zugebracht haben, ſtill in Gedanken an
den Todten! Sie ermunterte ſich bei meinem Eintritt,
ließ die Lampe anzünden und begann Thee zu be¬
reiten. „Er mochte ihn nicht,“ ſagte ſie dazwiſchen;
ich geſtand, daß ich es darin mit ihm halte, ſie ſchien
das erwartet zu haben und ſtellte mir ein ſchweres
geſchliffenes Glas hin mit den Worten: „Sie ſollen
ſeinen Wein aus ſeinem Tiſchglas trinken.“ Als ich
durch die erhellte dunkelrothe Flut auf den Grund des
Gefäßes ſah, fiel mir Juſtinus Kerner's ſchönes Ge¬
dicht auf das Trinkglas eines Freundes ein, ich ge¬
dachte dieſer liebenswürdigen Dichternatur, und erfuhr
von Frau Hedwig, daß A. E. in ſeiner Abendgeſell¬
ſchaft ein paarmal ſich für ihn verſtritten habe. „Die
Menſchen,“ ſagte er einmal beim Frühſtück nach einem
ſolchen Zanke, „wiſſen doch auch von nichts als von
Alternativen! Entweder, oder, ſo ſteht's in ihren
Zwiſchenwandköpfen! Entweder Betrüger oder Narr!
Keiner wollte begreifen, daß der Mann mit einem
Fuß im Geiſterweſen ſtand, mit dem andern heraus
war. Logiſche Konſequenz fordern von einem Poeten,
deſſen beſtes Talent ein ungemein herrlicher, grund¬
naiver und doch freier Phantaſieſinn für's Verrückte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Vischer, Friedrich Theodor von: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1879, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_auch02_1879/55>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.