Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1253.001 Durch die Aneignung der Quantität ist es der deutschen Sprache pvi_1253.031
pvi_1253.001 Durch die Aneignung der Quantität ist es der deutschen Sprache pvi_1253.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0115" n="1253"/><lb n="pvi_1253.001"/> Metrik war, eine vielseitige Bedingtheit und Bestimmbarkeit getreten <lb n="pvi_1253.002"/> ist, so wird dieser Charakter vollendet durch das Gewicht des <hi rendition="#g">Sinn=</hi>Accents, <lb n="pvi_1253.003"/> der den Wort-Accent und ebenhiemit auch dessen Verwendung als Länge <lb n="pvi_1253.004"/> durchkreuzt. „Jch <hi rendition="#g">bin's</hi>“ ist Jambus; „bin <hi rendition="#g">ich's?</hi>“ ist auch Jambus, <lb n="pvi_1253.005"/> aber „<hi rendition="#g">bin</hi> ich's?“ ist Trochäus (oder, wegen des Doppelconsonanten am <lb n="pvi_1253.006"/> Schluß, Spondäus). Dieß Moment ist es nun aber zugleich, was von <lb n="pvi_1253.007"/> Neuem die Frage über das Verhältniß der natürlichen Längen erschwert, <lb n="pvi_1253.008"/> die durch Verbindungen, Satzstellung doch den Hauptton verlieren. „War“ <lb n="pvi_1253.009"/> ist lang und hat starken Ton, aber wenn es in der Frage: „War <hi rendition="#g">ich's?</hi>“ <lb n="pvi_1253.010"/> als lang behandelt wird, so entsteht Unklarheit des Sinns, denn es ist <lb n="pvi_1253.011"/> nicht zu erkennen, ob nicht vielmehr gefragt wird: „<hi rendition="#g">war</hi> ich's?“ – Es <lb n="pvi_1253.012"/> ist nicht unsere Aufgabe, hier die Schwierigkeiten zu verfolgen, zu entscheiden <lb n="pvi_1253.013"/> und Regeln aufzustellen, sondern nur, auszusprechen, welcher Geist <lb n="pvi_1253.014"/> und Charakter aus solcher Beschaffenheit der Verhältnisse hervorgeht. Der <lb n="pvi_1253.015"/> Körper dieser Formwelt erscheint nun gegenüber dem festen Fleische und den <lb n="pvi_1253.016"/> normalen Proportionen der classischen zunächst, da er sich davon angeeignet <lb n="pvi_1253.017"/> hat, was möglich ist, zwar regelmäßiger, als die ältere deutsche Form, <lb n="pvi_1253.018"/> welche die Senkungen nicht zählte, aber durch die Verwicklung des hinzugekommenen <lb n="pvi_1253.019"/> neuen Prinzips mit dem ursprünglichen auf der andern Seite <lb n="pvi_1253.020"/> nur desto gemischter, vermittelter, gebrochener, durcharbeiteter, mürber von <lb n="pvi_1253.021"/> allen Seiten; aber die Lichter des Geistes, die auf ihm hin und wiederspielen, <lb n="pvi_1253.022"/> frei ihre Stelle wechseln, ihren Druck jetzt auf diesen, jetzt auf jenen <lb n="pvi_1253.023"/> Punct werfen, auf ihm wie auf Tasten hin und her laufen, geben ihm für <lb n="pvi_1253.024"/> den Verlust der Jugendblüthe ein zweites, höheres, ein wiedergebornes <lb n="pvi_1253.025"/> Leben, das seine Falten verschönert. Es ist dieß noch derselbe Geist, der <lb n="pvi_1253.026"/> den Charakter der ursprünglichen, nicht quantitirenden, deutschen Rhythmik <lb n="pvi_1253.027"/> bestimmt hat: es ist der Jnhalt, die Sache selbst, es gibt keine Rhythmik <lb n="pvi_1253.028"/> als Kunstsystem an und für sich, ohne die innere Bedeutung der Dinge; <lb n="pvi_1253.029"/> aber dieser Geist beherrscht jetzt eine reichere, gemischtere Welt.</hi> </p> <lb n="pvi_1253.030"/> <p> <hi rendition="#et"> Durch die Aneignung der Quantität ist es der deutschen Sprache <lb n="pvi_1253.031"/> möglich geworden, die antiken Versmaaße nachzuahmen. Aber sie hat dabei <lb n="pvi_1253.032"/> doch nicht nur mit den genannten Schwierigkeiten zu kämpfen, sondern der <lb n="pvi_1253.033"/> Mangel eines festen, organischen Wechsels von Längen und Kürzen, zu <lb n="pvi_1253.034"/> welchem wir noch erwähnen müssen, daß uns im Laufe der Zeit zu viele <lb n="pvi_1253.035"/> ursprüngliche Längen verloren gegangen sind, hängt auch mit der wachsenden <lb n="pvi_1253.036"/> Verstümmlung der Flexionen und Bildungen zusammen, die unsere Sprache <lb n="pvi_1253.037"/> erfahren hat, und diese entzieht dem Verse, der doch plastische Schönheit <lb n="pvi_1253.038"/> verlangt, seine natürliche Fülle. Unsere Poesie, Literatur, Sprache hat <lb n="pvi_1253.039"/> unendlich dadurch gewonnen, daß wir die antiken Maaße nachbilden <hi rendition="#g">können</hi> <lb n="pvi_1253.040"/> und oft nachbilden; aber es bleibt doch eine Maske, ein fremdes Kleid. Es <lb n="pvi_1253.041"/> verhält sich wie mit der Aufnahme der alten Götterwelt und ihrer direct </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1253/0115]
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Metrik war, eine vielseitige Bedingtheit und Bestimmbarkeit getreten pvi_1253.002
ist, so wird dieser Charakter vollendet durch das Gewicht des Sinn=Accents, pvi_1253.003
der den Wort-Accent und ebenhiemit auch dessen Verwendung als Länge pvi_1253.004
durchkreuzt. „Jch bin's“ ist Jambus; „bin ich's?“ ist auch Jambus, pvi_1253.005
aber „bin ich's?“ ist Trochäus (oder, wegen des Doppelconsonanten am pvi_1253.006
Schluß, Spondäus). Dieß Moment ist es nun aber zugleich, was von pvi_1253.007
Neuem die Frage über das Verhältniß der natürlichen Längen erschwert, pvi_1253.008
die durch Verbindungen, Satzstellung doch den Hauptton verlieren. „War“ pvi_1253.009
ist lang und hat starken Ton, aber wenn es in der Frage: „War ich's?“ pvi_1253.010
als lang behandelt wird, so entsteht Unklarheit des Sinns, denn es ist pvi_1253.011
nicht zu erkennen, ob nicht vielmehr gefragt wird: „war ich's?“ – Es pvi_1253.012
ist nicht unsere Aufgabe, hier die Schwierigkeiten zu verfolgen, zu entscheiden pvi_1253.013
und Regeln aufzustellen, sondern nur, auszusprechen, welcher Geist pvi_1253.014
und Charakter aus solcher Beschaffenheit der Verhältnisse hervorgeht. Der pvi_1253.015
Körper dieser Formwelt erscheint nun gegenüber dem festen Fleische und den pvi_1253.016
normalen Proportionen der classischen zunächst, da er sich davon angeeignet pvi_1253.017
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neuen Prinzips mit dem ursprünglichen auf der andern Seite pvi_1253.020
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allen Seiten; aber die Lichter des Geistes, die auf ihm hin und wiederspielen, pvi_1253.022
frei ihre Stelle wechseln, ihren Druck jetzt auf diesen, jetzt auf jenen pvi_1253.023
Punct werfen, auf ihm wie auf Tasten hin und her laufen, geben ihm für pvi_1253.024
den Verlust der Jugendblüthe ein zweites, höheres, ein wiedergebornes pvi_1253.025
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als Kunstsystem an und für sich, ohne die innere Bedeutung der Dinge; pvi_1253.029
aber dieser Geist beherrscht jetzt eine reichere, gemischtere Welt.
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Durch die Aneignung der Quantität ist es der deutschen Sprache pvi_1253.031
möglich geworden, die antiken Versmaaße nachzuahmen. Aber sie hat dabei pvi_1253.032
doch nicht nur mit den genannten Schwierigkeiten zu kämpfen, sondern der pvi_1253.033
Mangel eines festen, organischen Wechsels von Längen und Kürzen, zu pvi_1253.034
welchem wir noch erwähnen müssen, daß uns im Laufe der Zeit zu viele pvi_1253.035
ursprüngliche Längen verloren gegangen sind, hängt auch mit der wachsenden pvi_1253.036
Verstümmlung der Flexionen und Bildungen zusammen, die unsere Sprache pvi_1253.037
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und oft nachbilden; aber es bleibt doch eine Maske, ein fremdes Kleid. Es pvi_1253.041
verhält sich wie mit der Aufnahme der alten Götterwelt und ihrer direct
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