Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1254.001 Zuvor nur noch Weniges über die romanische und englische Rhythmik. pvi_1254.014
pvi_1254.001 Zuvor nur noch Weniges über die romanische und englische Rhythmik. pvi_1254.014 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0116" n="1254"/><lb n="pvi_1254.001"/> idealen Formen in der Plastik und namentlich in der Malerei: eine Versetzung <lb n="pvi_1254.002"/> der Phantasie in eine fremde Welt, die <hi rendition="#g">unter Anderem</hi> gut und <lb n="pvi_1254.003"/> schön ist, aber nie das Bleibende, das Bestimmende sein kann. Die Nachahmung <lb n="pvi_1254.004"/> der alten Metra als einzig wahres Gesetz ansprechen, wie Klopstock <lb n="pvi_1254.005"/> that, heißt im formalen Gebiet in den falschen Classicismus zurückstürzen, <lb n="pvi_1254.006"/> von dem er selber im materialen, in der innern Welt der Poesie uns befreite. <lb n="pvi_1254.007"/> Wir sollen durch das classische Jdeal Sinn und Gefühl läutern, aber nur <lb n="pvi_1254.008"/> den Honig aus ihm ziehen, nicht seine Zellen nachahmen. Unser Ersatz <lb n="pvi_1254.009"/> für den Verlust an <hi rendition="#g">unmittelbarer</hi> Schönheit, den wir auf diesem Wege <lb n="pvi_1254.010"/> nicht suchen können, liegt auf einer Seite, die schon vor der Aneignung <lb n="pvi_1254.011"/> des Classischen ihre Ausbildung fand und die wir nun genauer in's Auge <lb n="pvi_1254.012"/> fassen müssen.</hi> </p> <lb n="pvi_1254.013"/> <p> <hi rendition="#et"> Zuvor nur noch Weniges über die romanische und englische Rhythmik. <lb n="pvi_1254.014"/> Die romanischen Völker zeigen in dem ganz unorganischen Verhältnisse, <lb n="pvi_1254.015"/> worein sie das Sprach-Material zu der Versform setzen, daß mit der Verstümmlung, <lb n="pvi_1254.016"/> Mischung und Auflösung des Lateinischen, woraus jenes hervorgegangen, <lb n="pvi_1254.017"/> auch die Jnnigkeit des rhythmischen Gefühls verloren gegangen <lb n="pvi_1254.018"/> ist. Sie zählen nur die Sylben und spannen, unbekümmert um den Wort= <lb n="pvi_1254.019"/> Accent, großentheils selbst um die Quantität, den Vers darüber. Wenn <lb n="pvi_1254.020"/> die antike Rhythmik sich ebenfalls um den Wort-Accent nicht kümmerte, so <lb n="pvi_1254.021"/> war dieß etwas Anderes: sie hatte dafür die strenge Prosodie, worin das <lb n="pvi_1254.022"/> Wort seinen ganzen Naturgehalt organisch geltend machte, und ihr Vers= <lb n="pvi_1254.023"/> Accent war ein reines, künstliches System, nicht ursprünglich auf den Wort= <lb n="pvi_1254.024"/> Accent gebaut, während die romanischen Völker die letztere, germanische <lb n="pvi_1254.025"/> Form annehmen und doch ganz willkürlich anwenden. Am meisten gilt diese <lb n="pvi_1254.026"/> Willkür von den <hi rendition="#g">Franzosen,</hi> an deren Versbildung man recht auffallend <lb n="pvi_1254.027"/> erkennt, daß ihnen die lateinische Sprache zudem aufgeimpft ist, daß sie <lb n="pvi_1254.028"/> daher kein lebendiges Naturgefühl für den Körper des Wortes haben. Die <lb n="pvi_1254.029"/> Willkür der Anwendung des Vers-Accents (der nach dem modern germanischen <lb n="pvi_1254.030"/> Prinzip als Länge gilt, wie die Thesis, Senkung als Kürze,) wird <lb n="pvi_1254.031"/> hier noch unterstützt durch das sogenannte Sprechen ohne Accent, d. h. die <lb n="pvi_1254.032"/> Betonung der Endsylben neben der Wurzel (nicht schlechtweg Betonung der <lb n="pvi_1254.033"/> Endsylben wie Manche harthörig meinen). Der Armuth, welche die Abstutzung <lb n="pvi_1254.034"/> der ursprünglichen lateinischen Endungen mit sich gebracht, wird <lb n="pvi_1254.035"/> theilweise dadurch abgeholfen, daß die stummen <hi rendition="#aq">e</hi> im Verse gesprochen werden <lb n="pvi_1254.036"/> und gelten, allein nur um so fühlbarer wird der unorganische Zustand, wenn <lb n="pvi_1254.037"/> selbst diese Sylben Accent und Länge tragen müssen. Bei einem solchen <lb n="pvi_1254.038"/> Grade der Willkür würden die Versformen geradezu unkenntlich, wenn nicht <lb n="pvi_1254.039"/> das Gesetz eingeführt wäre, daß am Ende des Verses Wort- und Vers= <lb n="pvi_1254.040"/> Accent immer zusammenfallen müssen. Es kann bei diesen Verhältnissen <lb n="pvi_1254.041"/> von einer Ausbildung reicher gegliederter Versfüße nicht die Rede sein, weil </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1254/0116]
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idealen Formen in der Plastik und namentlich in der Malerei: eine Versetzung pvi_1254.002
der Phantasie in eine fremde Welt, die unter Anderem gut und pvi_1254.003
schön ist, aber nie das Bleibende, das Bestimmende sein kann. Die Nachahmung pvi_1254.004
der alten Metra als einzig wahres Gesetz ansprechen, wie Klopstock pvi_1254.005
that, heißt im formalen Gebiet in den falschen Classicismus zurückstürzen, pvi_1254.006
von dem er selber im materialen, in der innern Welt der Poesie uns befreite. pvi_1254.007
Wir sollen durch das classische Jdeal Sinn und Gefühl läutern, aber nur pvi_1254.008
den Honig aus ihm ziehen, nicht seine Zellen nachahmen. Unser Ersatz pvi_1254.009
für den Verlust an unmittelbarer Schönheit, den wir auf diesem Wege pvi_1254.010
nicht suchen können, liegt auf einer Seite, die schon vor der Aneignung pvi_1254.011
des Classischen ihre Ausbildung fand und die wir nun genauer in's Auge pvi_1254.012
fassen müssen.
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Zuvor nur noch Weniges über die romanische und englische Rhythmik. pvi_1254.014
Die romanischen Völker zeigen in dem ganz unorganischen Verhältnisse, pvi_1254.015
worein sie das Sprach-Material zu der Versform setzen, daß mit der Verstümmlung, pvi_1254.016
Mischung und Auflösung des Lateinischen, woraus jenes hervorgegangen, pvi_1254.017
auch die Jnnigkeit des rhythmischen Gefühls verloren gegangen pvi_1254.018
ist. Sie zählen nur die Sylben und spannen, unbekümmert um den Wort= pvi_1254.019
Accent, großentheils selbst um die Quantität, den Vers darüber. Wenn pvi_1254.020
die antike Rhythmik sich ebenfalls um den Wort-Accent nicht kümmerte, so pvi_1254.021
war dieß etwas Anderes: sie hatte dafür die strenge Prosodie, worin das pvi_1254.022
Wort seinen ganzen Naturgehalt organisch geltend machte, und ihr Vers= pvi_1254.023
Accent war ein reines, künstliches System, nicht ursprünglich auf den Wort= pvi_1254.024
Accent gebaut, während die romanischen Völker die letztere, germanische pvi_1254.025
Form annehmen und doch ganz willkürlich anwenden. Am meisten gilt diese pvi_1254.026
Willkür von den Franzosen, an deren Versbildung man recht auffallend pvi_1254.027
erkennt, daß ihnen die lateinische Sprache zudem aufgeimpft ist, daß sie pvi_1254.028
daher kein lebendiges Naturgefühl für den Körper des Wortes haben. Die pvi_1254.029
Willkür der Anwendung des Vers-Accents (der nach dem modern germanischen pvi_1254.030
Prinzip als Länge gilt, wie die Thesis, Senkung als Kürze,) wird pvi_1254.031
hier noch unterstützt durch das sogenannte Sprechen ohne Accent, d. h. die pvi_1254.032
Betonung der Endsylben neben der Wurzel (nicht schlechtweg Betonung der pvi_1254.033
Endsylben wie Manche harthörig meinen). Der Armuth, welche die Abstutzung pvi_1254.034
der ursprünglichen lateinischen Endungen mit sich gebracht, wird pvi_1254.035
theilweise dadurch abgeholfen, daß die stummen e im Verse gesprochen werden pvi_1254.036
und gelten, allein nur um so fühlbarer wird der unorganische Zustand, wenn pvi_1254.037
selbst diese Sylben Accent und Länge tragen müssen. Bei einem solchen pvi_1254.038
Grade der Willkür würden die Versformen geradezu unkenntlich, wenn nicht pvi_1254.039
das Gesetz eingeführt wäre, daß am Ende des Verses Wort- und Vers= pvi_1254.040
Accent immer zusammenfallen müssen. Es kann bei diesen Verhältnissen pvi_1254.041
von einer Ausbildung reicher gegliederter Versfüße nicht die Rede sein, weil
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