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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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aber sie können aus diesem Grunde nicht wohl zur Nachbildung der antiken pvi_1256.003
Metren, denen sie angehören, gebraucht werden, sie sind beliebt im springenden pvi_1256.004
Balladen-Versmaaß, aber zwischen Jamben oder Trochäen eingefaßt, pvi_1256.005
und diese einfachen Formen sind die herrschenden. Die schon erwähnte pvi_1256.006
Menge einsylbiger Wörter bereitet nun spezieller dadurch große Schwierigkeiten pvi_1256.007
gegen consequente Uebertragung des Quantitativen, daß dieselben doch pvi_1256.008
dem Gehalte nach großentheils bedeutend sind, daß dieser in umgekehrtem pvi_1256.009
Verhältniß zu ihrem Körper steht, daß sie sich daher gegen die Einfügung pvi_1256.010
in die antiken Verse, namentlich die längeren, sträuben: "ein mit ihnen pvi_1256.011
gefüllter längerer Vers müßte überfüllt erscheinen" (Grundriß der Metrik pvi_1256.012
antiker und moderner Spr. v. Krüger S. 96).

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3. Den Reim haben wir mehrfach einen Ersatz für den Verlust der pvi_1256.014
strengen Gesetzmäßigkeit des metrisch Rhythmischen genannt. Er tritt am pvi_1256.015
Schlusse des Verses ein, und dieß eben ist recht ein Ausdruck davon, daß pvi_1256.016
hier im Verskörper selbst noch etwas fehlt, vermißt, gesucht wird, das denn pvi_1256.017
als Extremität, als Einfassung seinen Gliedern erst den fehlenden organischen pvi_1256.018
Halt gibt. Er kann auch die rhythmischen Reihen durchschneiden und so in pvi_1256.019
mehrere Zeilen zerfällen; dadurch ist er eine Quelle der reichsten Mannigfaltigkeit pvi_1256.020
in Strophen geworden. Durch den Reim tritt nun eine Wiederkehr pvi_1256.021
neuer Art in die poetische Formbildung ein. Vergleicht man dieselbe mit pvi_1256.022
den anderen Künsten, so erinnert sie in der Architektur an den gothischen pvi_1256.023
Styl: dieser liebt das geometrische Spiel der Stellungen, Umstellungen, pvi_1256.024
des symmetrischen Gegenüber krystallinisch gebundener, aber ohne strengen pvi_1256.025
Zusammenhang mit dem Structiven in buntem Ornamente schwelgender pvi_1256.026
Formen, während der classische seine keusch gesparten Ausschmückungen mit pvi_1256.027
streng organischem Gefühl aus den fungirenden Kräften entwickelt; der pvi_1256.028
Unterschied zwischen normal rhythmischer Schönheit und zwischen Reimschmuck pvi_1256.029
bei zerworfenen Verhältnissen der letzteren entspricht auf's Einleuchtendste pvi_1256.030
diesem architektonischen. Noch näher liegt die Vergleichung mit der Malerei: pvi_1256.031
es ist tief in der Natur der Sache begründet, daß man bei Farben an pvi_1256.032
Klänge und bei diesen an jene denkt; die lebendig warme, den Charakter pvi_1256.033
individualisirende Farbe bringt ganz ebenso das Element einer neuen Qualification pvi_1256.034
zu der festen Form, die sich in der Sculptur isolirt, wie der Reim pvi_1256.035
zu dem bloßen Proportionsleben in Takt und Quantität. Am nächsten pvi_1256.036
aber liegt der Blick in das eng benachbarte musikalische Gebiet: der Klang pvi_1256.037
des Worts, wie er im Reime technisch verwendet wird, daher als solcher pvi_1256.038
ausdrücklich in's Gehör fällt, ist tief verwandt mit der Klangfarbe der verschiedenen pvi_1256.039
Jnstrumente. Gleichzeitig ertönend bringen diese die Harmonie pvi_1256.040
hervor; der successive Eindruck der Reime tönt noch ungleich bestimmter, pvi_1256.041
als die wiederkehrenden Zeilen in reimlosen Strophen, wie eine gleichzeitige

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accent=, als quantitäts=mäßig gefühlt; es gibt Daktylen und Anapäste, pvi_1256.002
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gefüllter längerer Vers müßte überfüllt erscheinen“ (Grundriß der Metrik pvi_1256.012
antiker und moderner Spr. v. Krüger S. 96).

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3. Den Reim haben wir mehrfach einen Ersatz für den Verlust der pvi_1256.014
strengen Gesetzmäßigkeit des metrisch Rhythmischen genannt. Er tritt am pvi_1256.015
Schlusse des Verses ein, und dieß eben ist recht ein Ausdruck davon, daß pvi_1256.016
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/118>, abgerufen am 21.11.2024.