Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1268.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0130" n="1268"/><lb n="pvi_1268.001"/> dramatische Dichter stehe unter der Kategorie der Causalität, der epische <lb n="pvi_1268.002"/> unter der Substantialität, so ist unter dem ersteren Begriffe die rein von <lb n="pvi_1268.003"/> vorn anfangende innere Causalität zu verstehen, nicht die Reihe der Causalitäten, <lb n="pvi_1268.004"/> der äußeren und inneren miteinander, wie sie eben als die Expansion <lb n="pvi_1268.005"/> der Substanz erscheint. Das aber ist richtig, daß Handlungen, die sehr <lb n="pvi_1268.006"/> nachdrücklich zunächst den Charakter tragen, daß sie den Faden des Gegebenen <lb n="pvi_1268.007"/> revolutionär durchschneiden, kein epischer Stoff sind. Die Epochen <lb n="pvi_1268.008"/> der Geschichte, die dem Epos und die dem Drama den Stoff liefern, die <lb n="pvi_1268.009"/> großen Männer, die mit dem Ganzen gehen, und jene, die sich von den <lb n="pvi_1268.010"/> Massen losreißen, isoliren, um eine neue Ordnung der Dinge zu schaffen, <lb n="pvi_1268.011"/> hat treffend Gervinus unterschieden (Gesch. der poet. Nat.=Lit. der Deutschen, <lb n="pvi_1268.012"/> 1. Ausg. B. 5, S. 491 ff.). Dieß führt uns auf die Organe der Handlung <lb n="pvi_1268.013"/> und das Hauptorgan, den Helden im Mittelpunct. Er muß als ein <lb n="pvi_1268.014"/> Subject der lebendigsten Selbstthätigkeit hervorragen. Allein wie frei und frischweg <lb n="pvi_1268.015"/> von innen heraus er handeln mag, so folgt doch eben aus dem einreihenden, <lb n="pvi_1268.016"/> an die Summe der Bedingungen anknüpfenden Charakter der Auffassung <lb n="pvi_1268.017"/> und Stoffwahl, daß auch diese Selbstthätigkeit wieder nur als Glied des <lb n="pvi_1268.018"/> Complexes erscheint, der als Ganzes nothwendig ist; der epische Held <lb n="pvi_1268.019"/> schwimmt mit starkem Arme, aber nicht gegen, sondern mit der Woge, und <lb n="pvi_1268.020"/> die Wassermasse, die er theilt, hält doch ihn selbst. „Jm Epos trägt die <lb n="pvi_1268.021"/> Welt den Helden, im Drama trägt ein Atlas die Welt“ (J. P. Fr. Richter, <lb n="pvi_1268.022"/> Vorsch. der Aesth. §. 63). Diese Selbständigkeit ohne Jsolirung nimmt in <lb n="pvi_1268.023"/> den Arten der epischen Poesie allerdings verschiedene Formen an und wird <lb n="pvi_1268.024"/> fast zum bloßen Verarbeiten von Eindrücken, Leidenschaften, Bildungsmomenten <lb n="pvi_1268.025"/> in demjenigen Gebiete, wo es sich nicht um Thaten, sondern um <lb n="pvi_1268.026"/> Bildung handelt (Roman; W. Meister z. B. ist übrigens allzu unselbständig), <lb n="pvi_1268.027"/> aber der Grundbegriff bleibt der gleiche. – Mag nun die Thätigkeit des <lb n="pvi_1268.028"/> Helden die lautere oder stillere sein, die Entschlüsse keimen und gähren im <lb n="pvi_1268.029"/> tiefen Grunde der Seele und es fragt sich, ob oder wieweit die epische <lb n="pvi_1268.030"/> Poesie mit diesem innern Processe sich zu beschäftigen habe. Natürlich nicht <lb n="pvi_1268.031"/> schlechthin darf man dieß verneinen, es bleibt vielmehr auch für diese Gattung <lb n="pvi_1268.032"/> der Satz in Kraft, daß die Poesie mehr, als jede andere Kunst, den Grund <lb n="pvi_1268.033"/> des Lebens in das Jnnere verlege und die Welt des Bewußtseins schildere <lb n="pvi_1268.034"/> (§. 842), allein nach zwei Seiten macht sich die substantielle, sächliche Auffassung <lb n="pvi_1268.035"/> des Epischen geltend. Der innere Proceß selbst erscheint mehr als <lb n="pvi_1268.036"/> ein Bestimmts<hi rendition="#g">ein,</hi> denn als ein Wollen, das Geisteswerk selbst als ein <lb n="pvi_1268.037"/> Naturwerk, Wachsen, Reifen oder plötzliches Entstehen; es kommt über den <lb n="pvi_1268.038"/> Helden wie eine fremde Macht, den Achilles warnt eine innere Stimme, <lb n="pvi_1268.039"/> seinen Zorn gegen Agamemnon mitten im Ausbruche zurückzuhalten: es <lb n="pvi_1268.040"/> ist Athene, die ihn an der blonden Locke faßt; so werden die innern Motive <lb n="pvi_1268.041"/> selbst zu Begebnissen (Hegel a. a. O. S. 356. 357), und sind es nicht </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1268/0130]
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dramatische Dichter stehe unter der Kategorie der Causalität, der epische pvi_1268.002
unter der Substantialität, so ist unter dem ersteren Begriffe die rein von pvi_1268.003
vorn anfangende innere Causalität zu verstehen, nicht die Reihe der Causalitäten, pvi_1268.004
der äußeren und inneren miteinander, wie sie eben als die Expansion pvi_1268.005
der Substanz erscheint. Das aber ist richtig, daß Handlungen, die sehr pvi_1268.006
nachdrücklich zunächst den Charakter tragen, daß sie den Faden des Gegebenen pvi_1268.007
revolutionär durchschneiden, kein epischer Stoff sind. Die Epochen pvi_1268.008
der Geschichte, die dem Epos und die dem Drama den Stoff liefern, die pvi_1268.009
großen Männer, die mit dem Ganzen gehen, und jene, die sich von den pvi_1268.010
Massen losreißen, isoliren, um eine neue Ordnung der Dinge zu schaffen, pvi_1268.011
hat treffend Gervinus unterschieden (Gesch. der poet. Nat.=Lit. der Deutschen, pvi_1268.012
1. Ausg. B. 5, S. 491 ff.). Dieß führt uns auf die Organe der Handlung pvi_1268.013
und das Hauptorgan, den Helden im Mittelpunct. Er muß als ein pvi_1268.014
Subject der lebendigsten Selbstthätigkeit hervorragen. Allein wie frei und frischweg pvi_1268.015
von innen heraus er handeln mag, so folgt doch eben aus dem einreihenden, pvi_1268.016
an die Summe der Bedingungen anknüpfenden Charakter der Auffassung pvi_1268.017
und Stoffwahl, daß auch diese Selbstthätigkeit wieder nur als Glied des pvi_1268.018
Complexes erscheint, der als Ganzes nothwendig ist; der epische Held pvi_1268.019
schwimmt mit starkem Arme, aber nicht gegen, sondern mit der Woge, und pvi_1268.020
die Wassermasse, die er theilt, hält doch ihn selbst. „Jm Epos trägt die pvi_1268.021
Welt den Helden, im Drama trägt ein Atlas die Welt“ (J. P. Fr. Richter, pvi_1268.022
Vorsch. der Aesth. §. 63). Diese Selbständigkeit ohne Jsolirung nimmt in pvi_1268.023
den Arten der epischen Poesie allerdings verschiedene Formen an und wird pvi_1268.024
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in demjenigen Gebiete, wo es sich nicht um Thaten, sondern um pvi_1268.026
Bildung handelt (Roman; W. Meister z. B. ist übrigens allzu unselbständig), pvi_1268.027
aber der Grundbegriff bleibt der gleiche. – Mag nun die Thätigkeit des pvi_1268.028
Helden die lautere oder stillere sein, die Entschlüsse keimen und gähren im pvi_1268.029
tiefen Grunde der Seele und es fragt sich, ob oder wieweit die epische pvi_1268.030
Poesie mit diesem innern Processe sich zu beschäftigen habe. Natürlich nicht pvi_1268.031
schlechthin darf man dieß verneinen, es bleibt vielmehr auch für diese Gattung pvi_1268.032
der Satz in Kraft, daß die Poesie mehr, als jede andere Kunst, den Grund pvi_1268.033
des Lebens in das Jnnere verlege und die Welt des Bewußtseins schildere pvi_1268.034
(§. 842), allein nach zwei Seiten macht sich die substantielle, sächliche Auffassung pvi_1268.035
des Epischen geltend. Der innere Proceß selbst erscheint mehr als pvi_1268.036
ein Bestimmtsein, denn als ein Wollen, das Geisteswerk selbst als ein pvi_1268.037
Naturwerk, Wachsen, Reifen oder plötzliches Entstehen; es kommt über den pvi_1268.038
Helden wie eine fremde Macht, den Achilles warnt eine innere Stimme, pvi_1268.039
seinen Zorn gegen Agamemnon mitten im Ausbruche zurückzuhalten: es pvi_1268.040
ist Athene, die ihn an der blonden Locke faßt; so werden die innern Motive pvi_1268.041
selbst zu Begebnissen (Hegel a. a. O. S. 356. 357), und sind es nicht
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