Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1282.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0144" n="1282"/><lb n="pvi_1282.001"/> fortschreitet, so werden sich Hinter- und Vordergrund im Verlaufe zusammenbewegen: <lb n="pvi_1282.002"/> Dorothea tritt aus jenem auf diesen herüber, wird mit Hermann <lb n="pvi_1282.003"/> vereinigt und deutsche Gesinnung stellt sich als fester Damm gegen das <lb n="pvi_1282.004"/> Chaos, aus dem sie kommt. Die Erscheinungen, welche, in einem mittleren <lb n="pvi_1282.005"/> Maaße von bloßer Andeutung und voller Ausführung gehalten, die Hauptgruppe <lb n="pvi_1282.006"/> umgeben, wie die Bewohner des Städtchens in unserer Jdylle, <lb n="pvi_1282.007"/> kann man den Mittelgrund nennen. Der Dichter wird hier wieder Einige <lb n="pvi_1282.008"/> herausgreifen, um sie mit der Hauptgruppe auf den Vordergrund einzuführen; <lb n="pvi_1282.009"/> so stellt Göthe den Pfarrer und Apotheker in helleres Mittellicht, <lb n="pvi_1282.010"/> so nimmt die Jlias aus dem dunkeln Gewimmel der Streiter Einzelne heraus <lb n="pvi_1282.011"/> und bringt sie im Kampfe mit den Haupthelden auf das Proscenium. <lb n="pvi_1282.012"/> Durch solche Mittel läuft denn schließlich unbeschadet der deutlichen Scheidung <lb n="pvi_1282.013"/> Nahes und Fernes mit stärkeren und dünneren, längeren und kürzeren Fäden <lb n="pvi_1282.014"/> in die Eine Hauptgruppe, wie die Welt der Jlias in die Entzweiung des <lb n="pvi_1282.015"/> Achilles mit Agamemnon, sein Grollen, sein Hervorbrechen nach dem Tode <lb n="pvi_1282.016"/> des Patroklus und die Besiegung Hektor's zusammen; die Phantasie genießt <lb n="pvi_1282.017"/> sich in der freien Bewegung, von da wieder hinaus in den Hintergrund, <lb n="pvi_1282.018"/> das Schicksal Troja's und die Ahnung der großen griechischen Zukunft, und <lb n="pvi_1282.019"/> wieder zurück zu dem bindenden Mittelpuncte des Vordergrunds zu laufen. <lb n="pvi_1282.020"/> Dieser ist denn also enthalten in der eigentlichen, unmittelbar vor Augen <lb n="pvi_1282.021"/> liegenden <hi rendition="#g">Handlung.</hi> Sie muß als organisches Band der Einheit durchgreifen: <lb n="pvi_1282.022"/> diese alte Lehre des Aristoteles, der hierin im Wesentlichen Epos <lb n="pvi_1282.023"/> und Tragödie, ohne den Unterschied der liberaleren Form, worin das Gesetz <lb n="pvi_1282.024"/> im Epos herrscht, zu verkennen, unter dieselbe Forderung befaßt, haben <lb n="pvi_1282.025"/> wir schon oben, wo vom Jnhalte des Epos als solchem die Rede war, <lb n="pvi_1282.026"/> angeführt. Einfach und schlagend setzt Aristoteles hinzu, um diese Einheit <lb n="pvi_1282.027"/> durchführen zu können, habe Homer nicht den ganzen trojanischen Krieg behandelt, <lb n="pvi_1282.028"/> weil er zu groß und nicht leicht zu übersehen war, sondern einen <lb n="pvi_1282.029"/> Theil, der sich durch seine Episoden zum Bilde des Ganzen erweitert. <lb n="pvi_1282.030"/> Die Auseinanderhaltung eines Vordergrunds und Hintergrunds, die wir <lb n="pvi_1282.031"/> zunächst als mittleres Moment der Bindung des Einen und Vielen gefordert <lb n="pvi_1282.032"/> haben, gehört mehr der räumlichen, extensiven Seite an, sofern auch in der <lb n="pvi_1282.033"/> Poesie, da sie für die innere Anschauung darstellt, allerdings von einer <lb n="pvi_1282.034"/> solchen die Rede sein kann; die Handlung aber verlangt eine speziellere <lb n="pvi_1282.035"/> Bindung in zeitlicher Form und wir haben hier besonders deutlich jene in <lb n="pvi_1282.036"/> §. 500, 2. für alle Composition als wesentlich ausgesprochene Erscheinung <lb n="pvi_1282.037"/> eines <hi rendition="#g">Dreischlags</hi> in der einfachen Unterscheidung des Aristoteles: <lb n="pvi_1282.038"/> Anfang, Mitte, Ende; d. h. Darstellung der Sachlage mit den Keimen <lb n="pvi_1282.039"/> der Verwicklung, die Verwicklung mit ihren Kämpfen, deren Gipfel die <lb n="pvi_1282.040"/> Katastrophe ist, welche ebensosehr als das Ende der Mitte, wie als der <lb n="pvi_1282.041"/> Anfang des Endes erscheint, und das Ende d. h. die schließliche Lösung, </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1282/0144]
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fortschreitet, so werden sich Hinter- und Vordergrund im Verlaufe zusammenbewegen: pvi_1282.002
Dorothea tritt aus jenem auf diesen herüber, wird mit Hermann pvi_1282.003
vereinigt und deutsche Gesinnung stellt sich als fester Damm gegen das pvi_1282.004
Chaos, aus dem sie kommt. Die Erscheinungen, welche, in einem mittleren pvi_1282.005
Maaße von bloßer Andeutung und voller Ausführung gehalten, die Hauptgruppe pvi_1282.006
umgeben, wie die Bewohner des Städtchens in unserer Jdylle, pvi_1282.007
kann man den Mittelgrund nennen. Der Dichter wird hier wieder Einige pvi_1282.008
herausgreifen, um sie mit der Hauptgruppe auf den Vordergrund einzuführen; pvi_1282.009
so stellt Göthe den Pfarrer und Apotheker in helleres Mittellicht, pvi_1282.010
so nimmt die Jlias aus dem dunkeln Gewimmel der Streiter Einzelne heraus pvi_1282.011
und bringt sie im Kampfe mit den Haupthelden auf das Proscenium. pvi_1282.012
Durch solche Mittel läuft denn schließlich unbeschadet der deutlichen Scheidung pvi_1282.013
Nahes und Fernes mit stärkeren und dünneren, längeren und kürzeren Fäden pvi_1282.014
in die Eine Hauptgruppe, wie die Welt der Jlias in die Entzweiung des pvi_1282.015
Achilles mit Agamemnon, sein Grollen, sein Hervorbrechen nach dem Tode pvi_1282.016
des Patroklus und die Besiegung Hektor's zusammen; die Phantasie genießt pvi_1282.017
sich in der freien Bewegung, von da wieder hinaus in den Hintergrund, pvi_1282.018
das Schicksal Troja's und die Ahnung der großen griechischen Zukunft, und pvi_1282.019
wieder zurück zu dem bindenden Mittelpuncte des Vordergrunds zu laufen. pvi_1282.020
Dieser ist denn also enthalten in der eigentlichen, unmittelbar vor Augen pvi_1282.021
liegenden Handlung. Sie muß als organisches Band der Einheit durchgreifen: pvi_1282.022
diese alte Lehre des Aristoteles, der hierin im Wesentlichen Epos pvi_1282.023
und Tragödie, ohne den Unterschied der liberaleren Form, worin das Gesetz pvi_1282.024
im Epos herrscht, zu verkennen, unter dieselbe Forderung befaßt, haben pvi_1282.025
wir schon oben, wo vom Jnhalte des Epos als solchem die Rede war, pvi_1282.026
angeführt. Einfach und schlagend setzt Aristoteles hinzu, um diese Einheit pvi_1282.027
durchführen zu können, habe Homer nicht den ganzen trojanischen Krieg behandelt, pvi_1282.028
weil er zu groß und nicht leicht zu übersehen war, sondern einen pvi_1282.029
Theil, der sich durch seine Episoden zum Bilde des Ganzen erweitert. pvi_1282.030
Die Auseinanderhaltung eines Vordergrunds und Hintergrunds, die wir pvi_1282.031
zunächst als mittleres Moment der Bindung des Einen und Vielen gefordert pvi_1282.032
haben, gehört mehr der räumlichen, extensiven Seite an, sofern auch in der pvi_1282.033
Poesie, da sie für die innere Anschauung darstellt, allerdings von einer pvi_1282.034
solchen die Rede sein kann; die Handlung aber verlangt eine speziellere pvi_1282.035
Bindung in zeitlicher Form und wir haben hier besonders deutlich jene in pvi_1282.036
§. 500, 2. für alle Composition als wesentlich ausgesprochene Erscheinung pvi_1282.037
eines Dreischlags in der einfachen Unterscheidung des Aristoteles: pvi_1282.038
Anfang, Mitte, Ende; d. h. Darstellung der Sachlage mit den Keimen pvi_1282.039
der Verwicklung, die Verwicklung mit ihren Kämpfen, deren Gipfel die pvi_1282.040
Katastrophe ist, welche ebensosehr als das Ende der Mitte, wie als der pvi_1282.041
Anfang des Endes erscheint, und das Ende d. h. die schließliche Lösung,
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