Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1283.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0145" n="1283"/><lb n="pvi_1283.001"/> der Ablauf der Katastrophe bis zum eigentlichen äußeren Schluß. Jn der <lb n="pvi_1283.002"/> Jlias bildet den Anfang Zorn und Grollen des Achilles mit der ganzen <lb n="pvi_1283.003"/> Lage der Griechen und Trojaner im Hintergrund, die Mitte sein Vorbrechen <lb n="pvi_1283.004"/> zur Theilnahme am Streit in Folge des Tods des Patroklus bis zum Kampfe <lb n="pvi_1283.005"/> mit Hektor; der Tod des letzteren, mit Troja's sicherem Untergang im <lb n="pvi_1283.006"/> Hintergrund, ist die Katastrophe, die ebensosehr die Mitte abschließt, als <lb n="pvi_1283.007"/> den Ablauf eröffnet, dessen eigentlicher Jnhalt in der Zurückgabe des Leichnams <lb n="pvi_1283.008"/> und dem Begräbniß des Patroklus liegt. So besteht in der Odyssee <lb n="pvi_1283.009"/> aus den Schicksalen des Helden unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Jthaka <lb n="pvi_1283.010"/> mit Einschluß dessen, was er vor Beginn des Epos erlitten hat und was <lb n="pvi_1283.011"/> in den Aufenthalt bei den Phäaken als Erzählung eingeschoben ist, der Anfang; <lb n="pvi_1283.012"/> die Scenen nach der Rückkehr, die sämmtlich in den Vorbereitungen <lb n="pvi_1283.013"/> zum Kampfe mit den Freiern zusammenlaufen, bilden die Mitte oder Verwicklung; <lb n="pvi_1283.014"/> mit dem Kampfe selbst ist das Gedicht auf seiner Höhe, unmittelbar <lb n="pvi_1283.015"/> an der Katastrophe, die Entscheidung desselben ist Anfang der Lösung, des <lb n="pvi_1283.016"/> Ablaufs, und was noch folgt, die Reinigung des Saals und Hauses, <lb n="pvi_1283.017"/> Bestrafung der Treulosen, die Scene mit Penelope, dann die wahrscheinlich <lb n="pvi_1283.018"/> späteren Zuthaten: der Auftritt in der Unterwelt, die Begrüßung des Laertes <lb n="pvi_1283.019"/> und Dämpfung des Aufruhrs, der eigentliche Ablauf, das Ende. Jm <lb n="pvi_1283.020"/> Nibelungen-Liede stellt der ganze Theil bis zu Chriemhildens zweiter Vermählung <lb n="pvi_1283.021"/> ebensosehr die Exposition für das Folgende, als ein eigenes Epos <lb n="pvi_1283.022"/> mit Anfang (bis zu dem Streite der Weiber), Mitte (von da bis zur Ermordung <lb n="pvi_1283.023"/> Sigfried's), Ende (Klage, Trauer, neue Kränkung der Chriemhilde <lb n="pvi_1283.024"/> durch den Raub des Schatzes) dar; im Folgenden waltet Sigfried's Geist <lb n="pvi_1283.025"/> als Nemesis im Rachedurst der Chriemhilde: Anfang bis zu der Einladung <lb n="pvi_1283.026"/> der Nibelungen, Mitte von den ersten Ausbrüchen des feindseligen Geistes, <lb n="pvi_1283.027"/> nachdem sie in Etzelenland angekommen, bis zu der Ermordung Gunther's <lb n="pvi_1283.028"/> und Hagen's im Gefängniß, Ende das Gericht, das Dieterich von Bern an <lb n="pvi_1283.029"/> Chriemhilde vollstreckt, und, wenn sie mit dem Epos noch verbunden wäre, <lb n="pvi_1283.030"/> die Klage. Die Jlias erscheint als schlußlos nur dann, wenn man verkennt, <lb n="pvi_1283.031"/> daß der Dichter aus dem großen Cyklus eine Parthie herausnehmen <lb n="pvi_1283.032"/> mußte, in der sich als in einem engen Ring ein Bild des Ganzen geben <lb n="pvi_1283.033"/> ließ, sie erscheint als über ihren natürlichen Schluß fortlaufend nur dann, <lb n="pvi_1283.034"/> wenn man verkennt, daß ein Epos voller ausathmen muß, als ein Drama. <lb n="pvi_1283.035"/> Die Annahme einer gewissen Schlußlosigkeit des Epos hat nur so viel <lb n="pvi_1283.036"/> Wahres, daß diese Gattung mehr, als andere Kunstwerke, vielleicht am <lb n="pvi_1283.037"/> meisten noch dem Gemälde ähnlich, das unbestimmte Bewußtsein erregt, <lb n="pvi_1283.038"/> daß die Kette der Dinge und Begebenheiten, obwohl hier eine ideale Einheit <lb n="pvi_1283.039"/> aus der empirischen Unendlichkeit einen Ausschnitt gibt, über diesen <lb n="pvi_1283.040"/> Ausschnitt fortläuft. Jm Romane namentlich mag es zweifelhaft sein, ob <lb n="pvi_1283.041"/> wir über das Ende der Nebenpersonen etwas mehr oder weniger erfahren <lb n="pvi_1283.042"/> sollten. Vergl. hierüber die Anm. zu §. 501.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1283/0145]
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der Ablauf der Katastrophe bis zum eigentlichen äußeren Schluß. Jn der pvi_1283.002
Jlias bildet den Anfang Zorn und Grollen des Achilles mit der ganzen pvi_1283.003
Lage der Griechen und Trojaner im Hintergrund, die Mitte sein Vorbrechen pvi_1283.004
zur Theilnahme am Streit in Folge des Tods des Patroklus bis zum Kampfe pvi_1283.005
mit Hektor; der Tod des letzteren, mit Troja's sicherem Untergang im pvi_1283.006
Hintergrund, ist die Katastrophe, die ebensosehr die Mitte abschließt, als pvi_1283.007
den Ablauf eröffnet, dessen eigentlicher Jnhalt in der Zurückgabe des Leichnams pvi_1283.008
und dem Begräbniß des Patroklus liegt. So besteht in der Odyssee pvi_1283.009
aus den Schicksalen des Helden unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Jthaka pvi_1283.010
mit Einschluß dessen, was er vor Beginn des Epos erlitten hat und was pvi_1283.011
in den Aufenthalt bei den Phäaken als Erzählung eingeschoben ist, der Anfang; pvi_1283.012
die Scenen nach der Rückkehr, die sämmtlich in den Vorbereitungen pvi_1283.013
zum Kampfe mit den Freiern zusammenlaufen, bilden die Mitte oder Verwicklung; pvi_1283.014
mit dem Kampfe selbst ist das Gedicht auf seiner Höhe, unmittelbar pvi_1283.015
an der Katastrophe, die Entscheidung desselben ist Anfang der Lösung, des pvi_1283.016
Ablaufs, und was noch folgt, die Reinigung des Saals und Hauses, pvi_1283.017
Bestrafung der Treulosen, die Scene mit Penelope, dann die wahrscheinlich pvi_1283.018
späteren Zuthaten: der Auftritt in der Unterwelt, die Begrüßung des Laertes pvi_1283.019
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Nibelungen-Liede stellt der ganze Theil bis zu Chriemhildens zweiter Vermählung pvi_1283.021
ebensosehr die Exposition für das Folgende, als ein eigenes Epos pvi_1283.022
mit Anfang (bis zu dem Streite der Weiber), Mitte (von da bis zur Ermordung pvi_1283.023
Sigfried's), Ende (Klage, Trauer, neue Kränkung der Chriemhilde pvi_1283.024
durch den Raub des Schatzes) dar; im Folgenden waltet Sigfried's Geist pvi_1283.025
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der Nibelungen, Mitte von den ersten Ausbrüchen des feindseligen Geistes, pvi_1283.027
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und Hagen's im Gefängniß, Ende das Gericht, das Dieterich von Bern an pvi_1283.029
Chriemhilde vollstreckt, und, wenn sie mit dem Epos noch verbunden wäre, pvi_1283.030
die Klage. Die Jlias erscheint als schlußlos nur dann, wenn man verkennt, pvi_1283.031
daß der Dichter aus dem großen Cyklus eine Parthie herausnehmen pvi_1283.032
mußte, in der sich als in einem engen Ring ein Bild des Ganzen geben pvi_1283.033
ließ, sie erscheint als über ihren natürlichen Schluß fortlaufend nur dann, pvi_1283.034
wenn man verkennt, daß ein Epos voller ausathmen muß, als ein Drama. pvi_1283.035
Die Annahme einer gewissen Schlußlosigkeit des Epos hat nur so viel pvi_1283.036
Wahres, daß diese Gattung mehr, als andere Kunstwerke, vielleicht am pvi_1283.037
meisten noch dem Gemälde ähnlich, das unbestimmte Bewußtsein erregt, pvi_1283.038
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aus der empirischen Unendlichkeit einen Ausschnitt gibt, über diesen pvi_1283.040
Ausschnitt fortläuft. Jm Romane namentlich mag es zweifelhaft sein, ob pvi_1283.041
wir über das Ende der Nebenpersonen etwas mehr oder weniger erfahren pvi_1283.042
sollten. Vergl. hierüber die Anm. zu §. 501.
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