Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1284.001 §. 871. pvi_1284.002Diese Eigenschaften begründen einen gewissen generischen Charakter der pvi_1284.003 Jn der epischen Poesie sind der Dichter und sein Object vereinigt und pvi_1284.006 pvi_1284.001 §. 871. pvi_1284.002Diese Eigenschaften begründen einen gewissen generischen Charakter der pvi_1284.003 Jn der epischen Poesie sind der Dichter und sein Object vereinigt und pvi_1284.006 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0146" n="1284"/> <lb n="pvi_1284.001"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 871.</hi> </p> <lb n="pvi_1284.002"/> <p> Diese Eigenschaften begründen einen gewissen <hi rendition="#g">generischen</hi> Charakter der <lb n="pvi_1284.003"/> epischen Dichtung und es scheint daher zunächst, daß sie aus der logischen Reihe <lb n="pvi_1284.004"/> der Formen der Poesie heraustrete.</p> <lb n="pvi_1284.005"/> <p> <hi rendition="#et"> Jn der epischen Poesie sind der Dichter und sein Object vereinigt und <lb n="pvi_1284.006"/> doch unterschieden; obwohl dem Geiste der Behandlung nach jener zurücktritt, <lb n="pvi_1284.007"/> bleibt er doch dem einfachen Sachverhalte nach sichtbar gegenwärtig <lb n="pvi_1284.008"/> neben seinem Stoffe. Dieß Verhältniß wurde als eine naive Synthese bezeichnet <lb n="pvi_1284.009"/> (§. 865). Nach dieser Seite haben wir ein einfaches Beisammensein <lb n="pvi_1284.010"/> der zwei Factoren, die in den andern Formen der Poesie sich gegenseitig <lb n="pvi_1284.011"/> absorbiren, denn in der lyrischen geht die Welt im Dichter, in der dramatischen <lb n="pvi_1284.012"/> der Dichter in seiner Welt auf. Das Epische erscheint schon dadurch <lb n="pvi_1284.013"/> als eine elementarische Form, die zu den beiden andern nicht im Verhältnisse <lb n="pvi_1284.014"/> der Coordination steht wie Einzelnes zu Einzelnem, sondern in dem <lb n="pvi_1284.015"/> des Allgemeinen zum Einzelnen, der ursprünglichen Einheit zu den Formen <lb n="pvi_1284.016"/> des Gegensatzes. Nimmt man nun den Geist der Behandlung dazu, so <lb n="pvi_1284.017"/> scheint auch nach dieser Seite der epische Dichter durch seine objective Ruhe und <lb n="pvi_1284.018"/> ideale Universalität, sowie durch seine Aufgabe, selbst Alles klar zu zeichnen <lb n="pvi_1284.019"/> und dem innern Auge zur Erscheinung zu bringen, weit mehr der Dichter überhaupt, <lb n="pvi_1284.020"/> ja der Künstler überhaupt zu sein, als es der lyrische und dramatische ist. <lb n="pvi_1284.021"/> Der Künstler überhaupt: denn Objectivität ist Grundbegriff aller Kunst gegenüber <lb n="pvi_1284.022"/> dem blos subjectiven Phantasiegebilde und man kann mit W. v. Humboldt <lb n="pvi_1284.023"/> (a. a. O. S. 46 u. 49) es so wenden: er gleiche am meisten dem bildenden <lb n="pvi_1284.024"/> Künstler, die bildende Kunst stelle aber das Wesen der Kunst an sich am <lb n="pvi_1284.025"/> reinsten dar; man kann ihn, den Schöpfer der „<hi rendition="#g">Sculpturbilder der <lb n="pvi_1284.026"/> Vorstellung</hi>“ (Hegel a. a. O. S. 322), näher dem Bildhauer vergleichen <lb n="pvi_1284.027"/> und nun daran erinnern, wie die Plastik mit einem gewissen Anspruch auf <lb n="pvi_1284.028"/> den Werth einer absoluten Kunst inmitten der bildenden Künste ruhig thront. <lb n="pvi_1284.029"/> Dieß Alles weist nun wieder ganz auf Göthe's normale Dichternatur und <lb n="pvi_1284.030"/> in jenen Stellen des Göthe-Schiller'schen Briefwechsels, worin überhaupt <lb n="pvi_1284.031"/> das Drama gegen das Epos zurückgesetzt wird, sagt denn dieser das interessante <lb n="pvi_1284.032"/> Wort über jenen: „ich glaube, daß blos die strenge gerade Linie, <lb n="pvi_1284.033"/> nach welcher der tragische Dichter fortschreiten muß, Jhrer Natur nicht zusagt, <lb n="pvi_1284.034"/> die sich überall mit freier Gemüthlichkeit äußern will; alsdann glaube <lb n="pvi_1284.035"/> ich auch, eine gewisse Berechnung auf den Zuschauer, von der sich der <lb n="pvi_1284.036"/> tragische Poet nicht dispensiren kann, der Hinblick auf einen Zweck genire <lb n="pvi_1284.037"/> Sie, und vielleicht sind Sie gerade nur deßwegen weniger zum Tragödiendichter <lb n="pvi_1284.038"/> geeignet, <hi rendition="#g">weil Sie ganz zum Dichter in seiner generischen <lb n="pvi_1284.039"/> Bedeutung erschaffen sind</hi>“ (a. a. O. Th. 3, S. 361). Die </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1284/0146]
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§. 871.
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Diese Eigenschaften begründen einen gewissen generischen Charakter der pvi_1284.003
epischen Dichtung und es scheint daher zunächst, daß sie aus der logischen Reihe pvi_1284.004
der Formen der Poesie heraustrete.
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Jn der epischen Poesie sind der Dichter und sein Object vereinigt und pvi_1284.006
doch unterschieden; obwohl dem Geiste der Behandlung nach jener zurücktritt, pvi_1284.007
bleibt er doch dem einfachen Sachverhalte nach sichtbar gegenwärtig pvi_1284.008
neben seinem Stoffe. Dieß Verhältniß wurde als eine naive Synthese bezeichnet pvi_1284.009
(§. 865). Nach dieser Seite haben wir ein einfaches Beisammensein pvi_1284.010
der zwei Factoren, die in den andern Formen der Poesie sich gegenseitig pvi_1284.011
absorbiren, denn in der lyrischen geht die Welt im Dichter, in der dramatischen pvi_1284.012
der Dichter in seiner Welt auf. Das Epische erscheint schon dadurch pvi_1284.013
als eine elementarische Form, die zu den beiden andern nicht im Verhältnisse pvi_1284.014
der Coordination steht wie Einzelnes zu Einzelnem, sondern in dem pvi_1284.015
des Allgemeinen zum Einzelnen, der ursprünglichen Einheit zu den Formen pvi_1284.016
des Gegensatzes. Nimmt man nun den Geist der Behandlung dazu, so pvi_1284.017
scheint auch nach dieser Seite der epische Dichter durch seine objective Ruhe und pvi_1284.018
ideale Universalität, sowie durch seine Aufgabe, selbst Alles klar zu zeichnen pvi_1284.019
und dem innern Auge zur Erscheinung zu bringen, weit mehr der Dichter überhaupt, pvi_1284.020
ja der Künstler überhaupt zu sein, als es der lyrische und dramatische ist. pvi_1284.021
Der Künstler überhaupt: denn Objectivität ist Grundbegriff aller Kunst gegenüber pvi_1284.022
dem blos subjectiven Phantasiegebilde und man kann mit W. v. Humboldt pvi_1284.023
(a. a. O. S. 46 u. 49) es so wenden: er gleiche am meisten dem bildenden pvi_1284.024
Künstler, die bildende Kunst stelle aber das Wesen der Kunst an sich am pvi_1284.025
reinsten dar; man kann ihn, den Schöpfer der „Sculpturbilder der pvi_1284.026
Vorstellung“ (Hegel a. a. O. S. 322), näher dem Bildhauer vergleichen pvi_1284.027
und nun daran erinnern, wie die Plastik mit einem gewissen Anspruch auf pvi_1284.028
den Werth einer absoluten Kunst inmitten der bildenden Künste ruhig thront. pvi_1284.029
Dieß Alles weist nun wieder ganz auf Göthe's normale Dichternatur und pvi_1284.030
in jenen Stellen des Göthe-Schiller'schen Briefwechsels, worin überhaupt pvi_1284.031
das Drama gegen das Epos zurückgesetzt wird, sagt denn dieser das interessante pvi_1284.032
Wort über jenen: „ich glaube, daß blos die strenge gerade Linie, pvi_1284.033
nach welcher der tragische Dichter fortschreiten muß, Jhrer Natur nicht zusagt, pvi_1284.034
die sich überall mit freier Gemüthlichkeit äußern will; alsdann glaube pvi_1284.035
ich auch, eine gewisse Berechnung auf den Zuschauer, von der sich der pvi_1284.036
tragische Poet nicht dispensiren kann, der Hinblick auf einen Zweck genire pvi_1284.037
Sie, und vielleicht sind Sie gerade nur deßwegen weniger zum Tragödiendichter pvi_1284.038
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Bedeutung erschaffen sind“ (a. a. O. Th. 3, S. 361). Die
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