Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

pvi_1285.001
freie Ruhe des epischen Dichters gründet sich, wie wir gesehen, namentlich pvi_1285.002
auf die Vergangenheit seines Objects und wenn die Ferne eine idealisirende pvi_1285.003
Kraft hat, so kommt sie vor Allem ihm zu statten: ein weiterer Ausdruck pvi_1285.004
für den Satz, daß diese Form durch reine Jdealität außer und über den pvi_1285.005
andern stehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyrische und pvi_1285.006
Dramatische; die objective und sinnliche Haltung schließt Momente des pvi_1285.007
hervorbrechenden subjectiven Gefühls, sei es das des Dichters oder seiner pvi_1285.008
Personen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe pvi_1285.009
Rede dialogische Form an, so daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns pvi_1285.010
aufzutreten scheinen. - Hier lassen wir diesen Satz von dem Vorzuge, pvi_1285.011
richtiger vor der generischen Natur der epischen Poesie stehen. Der Ausdruck pvi_1285.012
des §.: "es scheint zunächst" wird im Fortgang zu den weiteren Formen pvi_1285.013
seine Erledigung finden.

pvi_1285.014
2. Die Arten der epischen Poesie.
pvi_1285.015

§. 872.

pvi_1285.016

Jn der gesammten Ausbildung der epischen Poesie treten nur zwei Formen pvi_1285.017
auf, welche in dem Sinne rein und ächt sind, daß jede von ihnen als wirklicher pvi_1285.018
Typus eines der Style erscheint, deren großer Gegensatz die Geschichte pvi_1285.019
aller Kunst beherrscht: das griechische Heldengedicht und der moderne pvi_1285.020
Roman.
Alles Andere stellt sich unter den Maaßstab des ersteren und fällt, pvi_1285.021
trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter dasselbe; der pvi_1285.022
Roman dagegen ist zwar eine sehr mangelhafte Form, aber bestimmter und pvi_1285.023
selbständiger Ausdruck eines Styls.

pvi_1285.024

Der Jnhalt dieses §., der wohl nur auf den ersten, flüchtigen Blick pvi_1285.025
paradox erscheint, ist durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.

pvi_1285.026

§. 873.

pvi_1285.027

Während das einzige ursprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der1. pvi_1285.028
Orient hinterlassen hat, das indische, Ansätze von ächt epischer Schönheit in pvi_1285.029
das Formlose auflöst, steht das griechische Epos so in einziger Vollendung2. pvi_1285.030
da, daß es als historische Erscheinung doch ganz mit dem Begriffe pvi_1285.031
der Sache zusammenfällt;
denn in einer Dichtungsart, welche pvi_1285.032
ihrem Wesen nach ein plastisches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkommenste pvi_1285.033
da geleistet, wo nicht nur die Phantasie des Volksgeistes an sich plastisch pvi_1285.034
ist, sondern auch das dichtende Bewußtsein sich zur Kunstpoesie erhoben hat,

pvi_1285.001
freie Ruhe des epischen Dichters gründet sich, wie wir gesehen, namentlich pvi_1285.002
auf die Vergangenheit seines Objects und wenn die Ferne eine idealisirende pvi_1285.003
Kraft hat, so kommt sie vor Allem ihm zu statten: ein weiterer Ausdruck pvi_1285.004
für den Satz, daß diese Form durch reine Jdealität außer und über den pvi_1285.005
andern stehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyrische und pvi_1285.006
Dramatische; die objective und sinnliche Haltung schließt Momente des pvi_1285.007
hervorbrechenden subjectiven Gefühls, sei es das des Dichters oder seiner pvi_1285.008
Personen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe pvi_1285.009
Rede dialogische Form an, so daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns pvi_1285.010
aufzutreten scheinen. – Hier lassen wir diesen Satz von dem Vorzuge, pvi_1285.011
richtiger vor der generischen Natur der epischen Poesie stehen. Der Ausdruck pvi_1285.012
des §.: „es scheint zunächst“ wird im Fortgang zu den weiteren Formen pvi_1285.013
seine Erledigung finden.

pvi_1285.014
2. Die Arten der epischen Poesie.
pvi_1285.015

§. 872.

pvi_1285.016

Jn der gesammten Ausbildung der epischen Poesie treten nur zwei Formen pvi_1285.017
auf, welche in dem Sinne rein und ächt sind, daß jede von ihnen als wirklicher pvi_1285.018
Typus eines der Style erscheint, deren großer Gegensatz die Geschichte pvi_1285.019
aller Kunst beherrscht: das griechische Heldengedicht und der moderne pvi_1285.020
Roman.
Alles Andere stellt sich unter den Maaßstab des ersteren und fällt, pvi_1285.021
trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter dasselbe; der pvi_1285.022
Roman dagegen ist zwar eine sehr mangelhafte Form, aber bestimmter und pvi_1285.023
selbständiger Ausdruck eines Styls.

pvi_1285.024

Der Jnhalt dieses §., der wohl nur auf den ersten, flüchtigen Blick pvi_1285.025
paradox erscheint, ist durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.

pvi_1285.026

§. 873.

pvi_1285.027

Während das einzige ursprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der1. pvi_1285.028
Orient hinterlassen hat, das indische, Ansätze von ächt epischer Schönheit in pvi_1285.029
das Formlose auflöst, steht das griechische Epos so in einziger Vollendung2. pvi_1285.030
da, daß es als historische Erscheinung doch ganz mit dem Begriffe pvi_1285.031
der Sache zusammenfällt;
denn in einer Dichtungsart, welche pvi_1285.032
ihrem Wesen nach ein plastisches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkommenste pvi_1285.033
da geleistet, wo nicht nur die Phantasie des Volksgeistes an sich plastisch pvi_1285.034
ist, sondern auch das dichtende Bewußtsein sich zur Kunstpoesie erhoben hat,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0147" n="1285"/><lb n="pvi_1285.001"/>
freie Ruhe des epischen Dichters gründet sich, wie wir gesehen, namentlich <lb n="pvi_1285.002"/>
auf die Vergangenheit seines Objects und wenn die Ferne eine idealisirende <lb n="pvi_1285.003"/>
Kraft hat, so kommt sie vor Allem ihm zu statten: ein weiterer Ausdruck <lb n="pvi_1285.004"/>
für den Satz, daß diese Form durch reine Jdealität außer und über den <lb n="pvi_1285.005"/>
andern stehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyrische und <lb n="pvi_1285.006"/>
Dramatische; die objective und sinnliche Haltung schließt Momente des <lb n="pvi_1285.007"/>
hervorbrechenden subjectiven Gefühls, sei es das des Dichters oder seiner <lb n="pvi_1285.008"/>
Personen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe <lb n="pvi_1285.009"/>
Rede dialogische Form an, so daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns <lb n="pvi_1285.010"/>
aufzutreten scheinen. &#x2013; Hier lassen wir diesen Satz von dem Vorzuge, <lb n="pvi_1285.011"/>
richtiger vor der generischen Natur der epischen Poesie stehen. Der Ausdruck <lb n="pvi_1285.012"/>
des §.: &#x201E;es scheint zunächst&#x201C; wird im Fortgang zu den weiteren Formen <lb n="pvi_1285.013"/>
seine Erledigung finden.</hi> </p>
            </div>
          </div>
          <lb n="pvi_1285.014"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#c">2. Die Arten der epischen Poesie.</hi> </head>
            <lb n="pvi_1285.015"/>
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#c">§. 872.</hi> </p>
              <lb n="pvi_1285.016"/>
              <p>  Jn der gesammten Ausbildung der epischen Poesie treten nur zwei Formen <lb n="pvi_1285.017"/>
auf, welche in dem Sinne rein und ächt sind, daß jede von ihnen als wirklicher <lb n="pvi_1285.018"/>
Typus eines der <hi rendition="#g">Style</hi> erscheint, deren großer Gegensatz die Geschichte <lb n="pvi_1285.019"/>
aller Kunst beherrscht: <hi rendition="#g">das griechische Heldengedicht</hi> und <hi rendition="#g">der moderne <lb n="pvi_1285.020"/>
Roman.</hi> Alles Andere stellt sich unter den Maaßstab des ersteren und fällt, <lb n="pvi_1285.021"/>
trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter dasselbe; der <lb n="pvi_1285.022"/>
Roman dagegen ist zwar eine sehr mangelhafte Form, aber bestimmter und <lb n="pvi_1285.023"/>
selbständiger Ausdruck eines Styls.</p>
              <lb n="pvi_1285.024"/>
              <p> <hi rendition="#et">  Der Jnhalt dieses §., der wohl nur auf den ersten, flüchtigen Blick <lb n="pvi_1285.025"/>
paradox erscheint, ist durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.</hi> </p>
            </div>
            <lb n="pvi_1285.026"/>
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#c">§. 873.</hi> </p>
              <lb n="pvi_1285.027"/>
              <p>  Während das einzige ursprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der<note place="right">1.</note> <lb n="pvi_1285.028"/>
Orient hinterlassen hat, das <hi rendition="#g">indische,</hi> Ansätze von ächt epischer Schönheit in <lb n="pvi_1285.029"/>
das Formlose auflöst, steht das <hi rendition="#g">griechische Epos</hi> so in einziger Vollendung<note place="right">2.</note> <lb n="pvi_1285.030"/>
da, <hi rendition="#g">daß es als historische Erscheinung doch ganz mit dem Begriffe <lb n="pvi_1285.031"/>
der Sache zusammenfällt;</hi> denn in einer Dichtungsart, welche <lb n="pvi_1285.032"/>
ihrem Wesen nach ein plastisches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkommenste <lb n="pvi_1285.033"/>
da geleistet, wo nicht nur die Phantasie des Volksgeistes an sich plastisch <lb n="pvi_1285.034"/>
ist, sondern auch das dichtende Bewußtsein sich zur Kunstpoesie erhoben hat,
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1285/0147] pvi_1285.001 freie Ruhe des epischen Dichters gründet sich, wie wir gesehen, namentlich pvi_1285.002 auf die Vergangenheit seines Objects und wenn die Ferne eine idealisirende pvi_1285.003 Kraft hat, so kommt sie vor Allem ihm zu statten: ein weiterer Ausdruck pvi_1285.004 für den Satz, daß diese Form durch reine Jdealität außer und über den pvi_1285.005 andern stehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyrische und pvi_1285.006 Dramatische; die objective und sinnliche Haltung schließt Momente des pvi_1285.007 hervorbrechenden subjectiven Gefühls, sei es das des Dichters oder seiner pvi_1285.008 Personen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe pvi_1285.009 Rede dialogische Form an, so daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns pvi_1285.010 aufzutreten scheinen. – Hier lassen wir diesen Satz von dem Vorzuge, pvi_1285.011 richtiger vor der generischen Natur der epischen Poesie stehen. Der Ausdruck pvi_1285.012 des §.: „es scheint zunächst“ wird im Fortgang zu den weiteren Formen pvi_1285.013 seine Erledigung finden. pvi_1285.014 2. Die Arten der epischen Poesie. pvi_1285.015 §. 872. pvi_1285.016 Jn der gesammten Ausbildung der epischen Poesie treten nur zwei Formen pvi_1285.017 auf, welche in dem Sinne rein und ächt sind, daß jede von ihnen als wirklicher pvi_1285.018 Typus eines der Style erscheint, deren großer Gegensatz die Geschichte pvi_1285.019 aller Kunst beherrscht: das griechische Heldengedicht und der moderne pvi_1285.020 Roman. Alles Andere stellt sich unter den Maaßstab des ersteren und fällt, pvi_1285.021 trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter dasselbe; der pvi_1285.022 Roman dagegen ist zwar eine sehr mangelhafte Form, aber bestimmter und pvi_1285.023 selbständiger Ausdruck eines Styls. pvi_1285.024 Der Jnhalt dieses §., der wohl nur auf den ersten, flüchtigen Blick pvi_1285.025 paradox erscheint, ist durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen. pvi_1285.026 §. 873. pvi_1285.027 Während das einzige ursprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der pvi_1285.028 Orient hinterlassen hat, das indische, Ansätze von ächt epischer Schönheit in pvi_1285.029 das Formlose auflöst, steht das griechische Epos so in einziger Vollendung pvi_1285.030 da, daß es als historische Erscheinung doch ganz mit dem Begriffe pvi_1285.031 der Sache zusammenfällt; denn in einer Dichtungsart, welche pvi_1285.032 ihrem Wesen nach ein plastisches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkommenste pvi_1285.033 da geleistet, wo nicht nur die Phantasie des Volksgeistes an sich plastisch pvi_1285.034 ist, sondern auch das dichtende Bewußtsein sich zur Kunstpoesie erhoben hat, 1. 2.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/147
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/147>, abgerufen am 21.11.2024.