Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1290.001 1. Aristoteles unterscheidet (Poetik C. 24) ein einfaches und ein verwickeltes, pvi_1290.007 pvi_1290.001 1. Aristoteles unterscheidet (Poetik C. 24) ein einfaches und ein verwickeltes, pvi_1290.007 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0152" n="1290"/><lb n="pvi_1290.001"/> der epischen Dichtung neben das erhabene, pathetische Heldengedicht ein Epos, <lb n="pvi_1290.002"/> das seinem Hauptinhalte nach rührendes, das Jnnerliche mehr betonendes, die <lb n="pvi_1290.003"/> <note place="left">2.</note>Einzelzüge individueller zeichnendes Sittengemälde ist, und in dieser Richtung <lb n="pvi_1290.004"/> entsteht zuletzt das kleine Bild des Volkslebens mit entferntem Anklang sentimentaler <lb n="pvi_1290.005"/> Vertiefung in die Stille des Engen und der Natur: das <hi rendition="#g">Jdyll.</hi></p> <lb n="pvi_1290.006"/> <p> <hi rendition="#et"> 1. Aristoteles unterscheidet (Poetik C. 24) ein einfaches und ein verwickeltes, <lb n="pvi_1290.007"/> ein pathetisches und ein ethisches Epos; einfach und pathetisch, <lb n="pvi_1290.008"/> sagt er, ist die Jlias, verwickelt und ethisch die Odyssee. Ethisch heißt hier, <lb n="pvi_1290.009"/> was wir sittenbildlich nennen, mit dem Unterschiede, daß das eigentliche <lb n="pvi_1290.010"/> Sittenbild in der Malerei keine Fabel hat und haben kann, sondern nur <lb n="pvi_1290.011"/> Gebaren, Gewöhnung, Zustände in ihrem bleibenden, wiederkehrenden Wesen <lb n="pvi_1290.012"/> schildert. Das Merkmal der verschlungenen Composition haben wir als <lb n="pvi_1290.013"/> untergeordnet nicht in den §. aufgenommen; natürlich aber ist es allerdings, <lb n="pvi_1290.014"/> daß, wo nicht die großen Leidenschaften den Jnhalt bilden, welche auf dem <lb n="pvi_1290.015"/> Schauplatze der Heroenthat walten, dafür ein Reiz des Suchens und Findens <lb n="pvi_1290.016"/> eintreten wird, der in der Composition, doch auch in der Fabel an <lb n="pvi_1290.017"/> sich begründet sein muß: Anziehungen, Spannungen, die hingehalten, nach <lb n="pvi_1290.018"/> manchem Wechsel befriedigt werden und sowohl nach Stoff, als Behandlung <lb n="pvi_1290.019"/> ein wärmeres, concentrirteres <hi rendition="#g">subjectives Element</hi> in das Epos bringen. <lb n="pvi_1290.020"/> Hiemit kündigt sich ein Motiv an, das erst im romantischen und modernen <lb n="pvi_1290.021"/> Jdeal seine volle Ausbildung zu finden bestimmt ist: die Liebe. Jm antiken <lb n="pvi_1290.022"/> Epos ist es eheliche Liebe mit Heimath und Hauswesen, was den Mittelpunct <lb n="pvi_1290.023"/> dieser Form, der Odyssee bildet. Aristoteles sagt: die Odyssee ist <lb n="pvi_1290.024"/> verschlungen, denn sie ist durchaus Erkennung (und sittenbildlich); d. h. <lb n="pvi_1290.025"/> die Spannung auf das Wiedersehen ist der poetische Reiz, sie wird durch <lb n="pvi_1290.026"/> viele, von der Composition ineinandergeschlungene Hemmungen hingehalten <lb n="pvi_1290.027"/> bis zum Ende. Da nun das Subject der Erkennung natürlich liebende <lb n="pvi_1290.028"/> Menschen sind, so erhellt, wie in der <foreign xml:lang="grc">ἀναγνώρισις</foreign> des Aristoteles der <lb n="pvi_1290.029"/> Keim oder das antike Vorbild des Romans als höchst interessante Andeutung <lb n="pvi_1290.030"/> oder Ahnung verborgen liegt. Und wirklich: die Odyssee ist „der <lb n="pvi_1290.031"/> antike Ur-Roman (J. P. Fr. Richter Vorsch. d. Aesth. §. 66). Es folgt von <lb n="pvi_1290.032"/> selbst, daß das Jnnerliche auch überhaupt mehr in den Vordergrund tritt, <lb n="pvi_1290.033"/> wenn Sehnsucht und Wiedersehen den Haupt-Jnhalt bildet; Odysseus am <lb n="pvi_1290.034"/> Ufer der Jnsel der Kalypso in das Meer hinausweinend, die trauernde Penelope <lb n="pvi_1290.035"/> in der einsamen Kammer und der suchende Sohn sind Bilder eines innigeren <lb n="pvi_1290.036"/> Seelenlebens. Nur daß natürlich das epische Grundgesetz, wonach <lb n="pvi_1290.037"/> alles Jnnerliche in sinnlicher Ausführlichkeit der Erscheinung sich geben <lb n="pvi_1290.038"/> muß, unangetastet bleibt. Auch die Natur wird jetzt mit subjectiverem <lb n="pvi_1290.039"/> Jnteresse beschaut, das Meer, die landschaftlichen Reize, die Grotten, <lb n="pvi_1290.040"/> Quellen, Bäume u. s. w. So erscheint die Odyssee wirklich als „der </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1290/0152]
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der epischen Dichtung neben das erhabene, pathetische Heldengedicht ein Epos, pvi_1290.002
das seinem Hauptinhalte nach rührendes, das Jnnerliche mehr betonendes, die pvi_1290.003
Einzelzüge individueller zeichnendes Sittengemälde ist, und in dieser Richtung pvi_1290.004
entsteht zuletzt das kleine Bild des Volkslebens mit entferntem Anklang sentimentaler pvi_1290.005
Vertiefung in die Stille des Engen und der Natur: das Jdyll.
2. pvi_1290.006
1. Aristoteles unterscheidet (Poetik C. 24) ein einfaches und ein verwickeltes, pvi_1290.007
ein pathetisches und ein ethisches Epos; einfach und pathetisch, pvi_1290.008
sagt er, ist die Jlias, verwickelt und ethisch die Odyssee. Ethisch heißt hier, pvi_1290.009
was wir sittenbildlich nennen, mit dem Unterschiede, daß das eigentliche pvi_1290.010
Sittenbild in der Malerei keine Fabel hat und haben kann, sondern nur pvi_1290.011
Gebaren, Gewöhnung, Zustände in ihrem bleibenden, wiederkehrenden Wesen pvi_1290.012
schildert. Das Merkmal der verschlungenen Composition haben wir als pvi_1290.013
untergeordnet nicht in den §. aufgenommen; natürlich aber ist es allerdings, pvi_1290.014
daß, wo nicht die großen Leidenschaften den Jnhalt bilden, welche auf dem pvi_1290.015
Schauplatze der Heroenthat walten, dafür ein Reiz des Suchens und Findens pvi_1290.016
eintreten wird, der in der Composition, doch auch in der Fabel an pvi_1290.017
sich begründet sein muß: Anziehungen, Spannungen, die hingehalten, nach pvi_1290.018
manchem Wechsel befriedigt werden und sowohl nach Stoff, als Behandlung pvi_1290.019
ein wärmeres, concentrirteres subjectives Element in das Epos bringen. pvi_1290.020
Hiemit kündigt sich ein Motiv an, das erst im romantischen und modernen pvi_1290.021
Jdeal seine volle Ausbildung zu finden bestimmt ist: die Liebe. Jm antiken pvi_1290.022
Epos ist es eheliche Liebe mit Heimath und Hauswesen, was den Mittelpunct pvi_1290.023
dieser Form, der Odyssee bildet. Aristoteles sagt: die Odyssee ist pvi_1290.024
verschlungen, denn sie ist durchaus Erkennung (und sittenbildlich); d. h. pvi_1290.025
die Spannung auf das Wiedersehen ist der poetische Reiz, sie wird durch pvi_1290.026
viele, von der Composition ineinandergeschlungene Hemmungen hingehalten pvi_1290.027
bis zum Ende. Da nun das Subject der Erkennung natürlich liebende pvi_1290.028
Menschen sind, so erhellt, wie in der ἀναγνώρισις des Aristoteles der pvi_1290.029
Keim oder das antike Vorbild des Romans als höchst interessante Andeutung pvi_1290.030
oder Ahnung verborgen liegt. Und wirklich: die Odyssee ist „der pvi_1290.031
antike Ur-Roman (J. P. Fr. Richter Vorsch. d. Aesth. §. 66). Es folgt von pvi_1290.032
selbst, daß das Jnnerliche auch überhaupt mehr in den Vordergrund tritt, pvi_1290.033
wenn Sehnsucht und Wiedersehen den Haupt-Jnhalt bildet; Odysseus am pvi_1290.034
Ufer der Jnsel der Kalypso in das Meer hinausweinend, die trauernde Penelope pvi_1290.035
in der einsamen Kammer und der suchende Sohn sind Bilder eines innigeren pvi_1290.036
Seelenlebens. Nur daß natürlich das epische Grundgesetz, wonach pvi_1290.037
alles Jnnerliche in sinnlicher Ausführlichkeit der Erscheinung sich geben pvi_1290.038
muß, unangetastet bleibt. Auch die Natur wird jetzt mit subjectiverem pvi_1290.039
Jnteresse beschaut, das Meer, die landschaftlichen Reize, die Grotten, pvi_1290.040
Quellen, Bäume u. s. w. So erscheint die Odyssee wirklich als „der
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