Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1293.001 Jn dem Zusammenhange, wie wir hier die logische Eintheilung und pvi_1293.009 pvi_1293.001 Jn dem Zusammenhange, wie wir hier die logische Eintheilung und pvi_1293.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0155" n="1293"/><lb n="pvi_1293.001"/> durch höhere Kunst innerhalb der Volkspoesie zu Theil wurde, so daß sie <lb n="pvi_1293.002"/> als ein Ganzes aus verschiedenartigen Schichten überliefert sind: das <hi rendition="#g">persische</hi> <lb n="pvi_1293.003"/> und das <hi rendition="#g">deutsche.</hi> Das letztere unterscheidet sich dem Jnhalte nach von dem <lb n="pvi_1293.004"/> griechischen namentlich durch einen intensio tragischen Geist des Schicksals, mit <lb n="pvi_1293.005"/> dem der Heldencharakter zu einer finstern Größe zusammenwächst, steht ihm <lb n="pvi_1293.006"/> aber in seinen Grundbestandtheilen, sowie durch Scheidung in die zwei Formen <lb n="pvi_1293.007"/> (§. 874), ebenbürtiger gegenüber, als das Epos irgend eines andern Volkes.</p> <lb n="pvi_1293.008"/> <p> <hi rendition="#et"> Jn dem Zusammenhange, wie wir hier die logische Eintheilung und <lb n="pvi_1293.009"/> die geschichtliche Entwicklung ineinanderarbeiten, stellen sich die beiden Heldengedichte, <lb n="pvi_1293.010"/> von denen die Rede ist, an den Schluß der Lehre vom Epos <lb n="pvi_1293.011"/> im ursprünglichen Sinne des Wortes und an den Anfang der Poesie des <lb n="pvi_1293.012"/> Mittelalters, richtiger: zwischen heidnisches Alterthum und muhamedanisches, <lb n="pvi_1293.013"/> christliches Mittelalter so hinein, daß jenes den Kern, dieses (in Persien <lb n="pvi_1293.014"/> im zehnten, in Deutschland zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts) <lb n="pvi_1293.015"/> den formellen Abschluß gibt. Der große Unterschied ist nun freilich der, <lb n="pvi_1293.016"/> daß im Oriente <hi rendition="#g">Firdussi</hi> den ächt epischen Bestandtheil seines Schahname, <lb n="pvi_1293.017"/> die uralte Heldensage vom Kampfe zwischen Jran und Turan mit der <lb n="pvi_1293.018"/> herrlichen Heldengestalt Rusthems, ganz im Sinne eines Kunstepos voll <lb n="pvi_1293.019"/> Glanz und Reichthum der Phantasie, aber auch mit der grübelnden Künstlichkeit <lb n="pvi_1293.020"/> der reifen muhamedanischen Bildung abschließt oder vielmehr zu <lb n="pvi_1293.021"/> dem kleineren Theile eines Ganzen von massenhaftem, den weitschichtigen <lb n="pvi_1293.022"/> Geschichtsstoff in sich fassenden Umfang herabsetzt, während dagegen die <lb n="pvi_1293.023"/> deutsche Heldensage im Volksliede fortlebt und ihren Abschluß Händen oder <lb n="pvi_1293.024"/> einer Hand verdankt, die sich nur ein kleines Maaß von Kunstbildung <lb n="pvi_1293.025"/> angeeignet. Der Prozeß der Entstehung des deutschen Epos wäre soweit <lb n="pvi_1293.026"/> immerhin demjenigen, wodurch die Homerischen Epen entstanden sind, ähnlich <lb n="pvi_1293.027"/> genug. Auch der Stoff ist bei allem Unterschiede von tief verwandter, <lb n="pvi_1293.028"/> wahrhaft epischer Natur. So schlechthin kann Homer nicht Maaßstab sein, <lb n="pvi_1293.029"/> daß nicht eine Charakterwelt, die mit ungleich gröberer Form tiefer und <lb n="pvi_1293.030"/> härter in sich gedrängt ist, noch als ganz episch gelten könnte; eine Heldenstatue <lb n="pvi_1293.031"/> aus dunklem Granit ist nicht so erfreulich, wie eine aus Marmor, <lb n="pvi_1293.032"/> kann aber immer noch monumental genug sein; die geringere Flüssigkeit, <lb n="pvi_1293.033"/> der Stempel einer kargeren, winterlicheren Natur, die derbe, pralle Haltung <lb n="pvi_1293.034"/> erscheint doch so ganz und ächt naiv, sächlich, fern von jener Subjectivität, <lb n="pvi_1293.035"/> die das Band der Unmittelbarkeit zerschneidet, der Geist so gediegen instinctiv, <lb n="pvi_1293.036"/> in Massen handelnd, Massen bewegend, mit Roß und Schwert im <lb n="pvi_1293.037"/> gesund realen Verkehr, kindlich all der Dinge, die schön und gewaltig sind, <lb n="pvi_1293.038"/> sich erfreuend, in alter Vätersitte einfach wurzelnd, daß man sich durchaus <lb n="pvi_1293.039"/> in der rechten epischen Luft befindet. Die Leidenschaft, hier die Rache, <lb n="pvi_1293.040"/> geht ihren breiten und langen Weg ächt heidnisch reflexionslos wie eine </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1293/0155]
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durch höhere Kunst innerhalb der Volkspoesie zu Theil wurde, so daß sie pvi_1293.002
als ein Ganzes aus verschiedenartigen Schichten überliefert sind: das persische pvi_1293.003
und das deutsche. Das letztere unterscheidet sich dem Jnhalte nach von dem pvi_1293.004
griechischen namentlich durch einen intensio tragischen Geist des Schicksals, mit pvi_1293.005
dem der Heldencharakter zu einer finstern Größe zusammenwächst, steht ihm pvi_1293.006
aber in seinen Grundbestandtheilen, sowie durch Scheidung in die zwei Formen pvi_1293.007
(§. 874), ebenbürtiger gegenüber, als das Epos irgend eines andern Volkes.
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Jn dem Zusammenhange, wie wir hier die logische Eintheilung und pvi_1293.009
die geschichtliche Entwicklung ineinanderarbeiten, stellen sich die beiden Heldengedichte, pvi_1293.010
von denen die Rede ist, an den Schluß der Lehre vom Epos pvi_1293.011
im ursprünglichen Sinne des Wortes und an den Anfang der Poesie des pvi_1293.012
Mittelalters, richtiger: zwischen heidnisches Alterthum und muhamedanisches, pvi_1293.013
christliches Mittelalter so hinein, daß jenes den Kern, dieses (in Persien pvi_1293.014
im zehnten, in Deutschland zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts) pvi_1293.015
den formellen Abschluß gibt. Der große Unterschied ist nun freilich der, pvi_1293.016
daß im Oriente Firdussi den ächt epischen Bestandtheil seines Schahname, pvi_1293.017
die uralte Heldensage vom Kampfe zwischen Jran und Turan mit der pvi_1293.018
herrlichen Heldengestalt Rusthems, ganz im Sinne eines Kunstepos voll pvi_1293.019
Glanz und Reichthum der Phantasie, aber auch mit der grübelnden Künstlichkeit pvi_1293.020
der reifen muhamedanischen Bildung abschließt oder vielmehr zu pvi_1293.021
dem kleineren Theile eines Ganzen von massenhaftem, den weitschichtigen pvi_1293.022
Geschichtsstoff in sich fassenden Umfang herabsetzt, während dagegen die pvi_1293.023
deutsche Heldensage im Volksliede fortlebt und ihren Abschluß Händen oder pvi_1293.024
einer Hand verdankt, die sich nur ein kleines Maaß von Kunstbildung pvi_1293.025
angeeignet. Der Prozeß der Entstehung des deutschen Epos wäre soweit pvi_1293.026
immerhin demjenigen, wodurch die Homerischen Epen entstanden sind, ähnlich pvi_1293.027
genug. Auch der Stoff ist bei allem Unterschiede von tief verwandter, pvi_1293.028
wahrhaft epischer Natur. So schlechthin kann Homer nicht Maaßstab sein, pvi_1293.029
daß nicht eine Charakterwelt, die mit ungleich gröberer Form tiefer und pvi_1293.030
härter in sich gedrängt ist, noch als ganz episch gelten könnte; eine Heldenstatue pvi_1293.031
aus dunklem Granit ist nicht so erfreulich, wie eine aus Marmor, pvi_1293.032
kann aber immer noch monumental genug sein; die geringere Flüssigkeit, pvi_1293.033
der Stempel einer kargeren, winterlicheren Natur, die derbe, pralle Haltung pvi_1293.034
erscheint doch so ganz und ächt naiv, sächlich, fern von jener Subjectivität, pvi_1293.035
die das Band der Unmittelbarkeit zerschneidet, der Geist so gediegen instinctiv, pvi_1293.036
in Massen handelnd, Massen bewegend, mit Roß und Schwert im pvi_1293.037
gesund realen Verkehr, kindlich all der Dinge, die schön und gewaltig sind, pvi_1293.038
sich erfreuend, in alter Vätersitte einfach wurzelnd, daß man sich durchaus pvi_1293.039
in der rechten epischen Luft befindet. Die Leidenschaft, hier die Rache, pvi_1293.040
geht ihren breiten und langen Weg ächt heidnisch reflexionslos wie eine
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