Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1292.001 pvi_1292.037 Es kann hier nicht die Aufgabe sein, Virgil's Aeneis nach allen ihren pvi_1292.002 §. 876. pvi_1292.038Jm Mittelalter treten bei zwei Völkern Heldengedichte auf, die ihrem pvi_1292.039 pvi_1292.001 pvi_1292.037 Es kann hier nicht die Aufgabe sein, Virgil's Aeneis nach allen ihren pvi_1292.002 §. 876. pvi_1292.038Jm Mittelalter treten bei zwei Völkern Heldengedichte auf, die ihrem pvi_1292.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0154" n="1292"/> <lb n="pvi_1292.001"/> <p> <hi rendition="#et"> Es kann hier nicht die Aufgabe sein, Virgil's Aeneis nach allen ihren <lb n="pvi_1292.002"/> Zügen zu schildern, sondern nur, den großen Zusammenhang in's Auge zu <lb n="pvi_1292.003"/> fassen, worin dieses Werk der bewußten, correcten, eleganten Kunst an der <lb n="pvi_1292.004"/> Spitze einer ganzen Gattung und Generation steht, die mit ihm gerade <lb n="pvi_1292.005"/> durch den von ihr selbst thatsächlich anerkannten Maaßstab jenseits der <lb n="pvi_1292.006"/> richtigen Linie, in das Zweifelhafte verwiesen wird. Denn ein Product <lb n="pvi_1292.007"/> der bewußten Kunst, das in allen wesentlichen Zügen der (zwar auf dem <lb n="pvi_1292.008"/> Uebergange zur Kunstpoesie begriffenen, doch in ihrem Wesen noch reinen) <lb n="pvi_1292.009"/> naiven Volkspoesie nachgebildet ist, richtet sich eben durch sich selbst und <lb n="pvi_1292.010"/> bekennt sich als unächt. So erwächst der Satz, der uns im Folgenden <lb n="pvi_1292.011"/> führen wird: daß das Kunst-Epos kein reines Epos ist. Die vollendete <lb n="pvi_1292.012"/> Bildung ist dem Weltzustande nach prosaisch geworden in Staat, Gesellschaft <lb n="pvi_1292.013"/> u. s. w.; dieser Zustand macht natürlich die Poesie an sich nicht <lb n="pvi_1292.014"/> unmöglich, aber er verweist sie an diejenigen Formen, welche nicht ein <lb n="pvi_1292.015"/> Bild der unmittelbaren schönen Einheit des innern und äußern Lebens im <lb n="pvi_1292.016"/> Großen (im Kleinen ist es etwas Anderes) fordern; denn diesem Zustande <lb n="pvi_1292.017"/> muß man nahe stehen, wenn man ihn künstlerisch wiedergeben will. Versucht <lb n="pvi_1292.018"/> es der Künstler dennoch, so ist er zur Nachahmung genöthigt und <lb n="pvi_1292.019"/> das Ursprüngliche nachahmen ist ein innerer Widerspruch. Besonders deutlich <lb n="pvi_1292.020"/> zeigt sich dieß am Einwirken der Götter: sie sind nicht mehr lebendig <lb n="pvi_1292.021"/> geglaubt, daher ist es bereits Maschinerie. Allein dieß ist nur ein Ausdruck <lb n="pvi_1292.022"/> davon, wie der Standpunct im Ganzen verloren ist: kein Zug, der <lb n="pvi_1292.023"/> ein flüssig einfaches Natursein des Menschen darstellen soll, hat hier die <lb n="pvi_1292.024"/> Wahrheit, die nur in einer Welt möglich ist, von deren Naivetät auch ihr <lb n="pvi_1292.025"/> inniger Götterglaube Zeugniß gibt. Der Mensch, der das Naturband gelockert <lb n="pvi_1292.026"/> hat, lebt tiefer nach innen: das Sentimentale (namentlich in der <lb n="pvi_1292.027"/> Liebe der Dido) wird daher stärker, weit zu stark für das Heldengedicht. <lb n="pvi_1292.028"/> Der römische Geist der That, das mannhaft Gewaltige, Herrschende, Massen=Bewegende, <lb n="pvi_1292.029"/> in der Form feierlich Große (vergl. §. 352 ff., 442 ff.) bleibt <lb n="pvi_1292.030"/> diesem Epos ein unbenommener Ruhm, hat auch epischen Charakter, aber <lb n="pvi_1292.031"/> nicht hinreichenden, das ganze Weltbild episch zu bestimmen. – Wenn nunmehr <lb n="pvi_1292.032"/> die Poesie sich zu den Hirten begibt, so ist es schon Flucht aus einer <lb n="pvi_1292.033"/> falschen, naturlosen Cultur, der Sehnsucht wohl erscheint ein Bild des <lb n="pvi_1292.034"/> naturvollen Lebens, aber ein beschränkteres, vom großen Schauplatz heimlich <lb n="pvi_1292.035"/> abgelegenes; Virgil's Eklogon und Georgica werden die Stammväter der <lb n="pvi_1292.036"/> modernen Jdylle.</hi> </p> </div> <lb n="pvi_1292.037"/> <div n="4"> <p> <hi rendition="#c">§. 876.</hi> </p> <lb n="pvi_1292.038"/> <p> Jm <hi rendition="#g">Mittelalter</hi> treten bei zwei Völkern Heldengedichte auf, die ihrem <lb n="pvi_1292.039"/> Kerne nach dem griechischen an ächt epischem Charakter sich zur Seite stellen, <lb n="pvi_1292.040"/> denen aber nicht das Glück einer ununterbrochenen Fortbildung und Abschließung </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1292/0154]
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Es kann hier nicht die Aufgabe sein, Virgil's Aeneis nach allen ihren pvi_1292.002
Zügen zu schildern, sondern nur, den großen Zusammenhang in's Auge zu pvi_1292.003
fassen, worin dieses Werk der bewußten, correcten, eleganten Kunst an der pvi_1292.004
Spitze einer ganzen Gattung und Generation steht, die mit ihm gerade pvi_1292.005
durch den von ihr selbst thatsächlich anerkannten Maaßstab jenseits der pvi_1292.006
richtigen Linie, in das Zweifelhafte verwiesen wird. Denn ein Product pvi_1292.007
der bewußten Kunst, das in allen wesentlichen Zügen der (zwar auf dem pvi_1292.008
Uebergange zur Kunstpoesie begriffenen, doch in ihrem Wesen noch reinen) pvi_1292.009
naiven Volkspoesie nachgebildet ist, richtet sich eben durch sich selbst und pvi_1292.010
bekennt sich als unächt. So erwächst der Satz, der uns im Folgenden pvi_1292.011
führen wird: daß das Kunst-Epos kein reines Epos ist. Die vollendete pvi_1292.012
Bildung ist dem Weltzustande nach prosaisch geworden in Staat, Gesellschaft pvi_1292.013
u. s. w.; dieser Zustand macht natürlich die Poesie an sich nicht pvi_1292.014
unmöglich, aber er verweist sie an diejenigen Formen, welche nicht ein pvi_1292.015
Bild der unmittelbaren schönen Einheit des innern und äußern Lebens im pvi_1292.016
Großen (im Kleinen ist es etwas Anderes) fordern; denn diesem Zustande pvi_1292.017
muß man nahe stehen, wenn man ihn künstlerisch wiedergeben will. Versucht pvi_1292.018
es der Künstler dennoch, so ist er zur Nachahmung genöthigt und pvi_1292.019
das Ursprüngliche nachahmen ist ein innerer Widerspruch. Besonders deutlich pvi_1292.020
zeigt sich dieß am Einwirken der Götter: sie sind nicht mehr lebendig pvi_1292.021
geglaubt, daher ist es bereits Maschinerie. Allein dieß ist nur ein Ausdruck pvi_1292.022
davon, wie der Standpunct im Ganzen verloren ist: kein Zug, der pvi_1292.023
ein flüssig einfaches Natursein des Menschen darstellen soll, hat hier die pvi_1292.024
Wahrheit, die nur in einer Welt möglich ist, von deren Naivetät auch ihr pvi_1292.025
inniger Götterglaube Zeugniß gibt. Der Mensch, der das Naturband gelockert pvi_1292.026
hat, lebt tiefer nach innen: das Sentimentale (namentlich in der pvi_1292.027
Liebe der Dido) wird daher stärker, weit zu stark für das Heldengedicht. pvi_1292.028
Der römische Geist der That, das mannhaft Gewaltige, Herrschende, Massen=Bewegende, pvi_1292.029
in der Form feierlich Große (vergl. §. 352 ff., 442 ff.) bleibt pvi_1292.030
diesem Epos ein unbenommener Ruhm, hat auch epischen Charakter, aber pvi_1292.031
nicht hinreichenden, das ganze Weltbild episch zu bestimmen. – Wenn nunmehr pvi_1292.032
die Poesie sich zu den Hirten begibt, so ist es schon Flucht aus einer pvi_1292.033
falschen, naturlosen Cultur, der Sehnsucht wohl erscheint ein Bild des pvi_1292.034
naturvollen Lebens, aber ein beschränkteres, vom großen Schauplatz heimlich pvi_1292.035
abgelegenes; Virgil's Eklogon und Georgica werden die Stammväter der pvi_1292.036
modernen Jdylle.
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§. 876.
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Jm Mittelalter treten bei zwei Völkern Heldengedichte auf, die ihrem pvi_1292.039
Kerne nach dem griechischen an ächt epischem Charakter sich zur Seite stellen, pvi_1292.040
denen aber nicht das Glück einer ununterbrochenen Fortbildung und Abschließung
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